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Man findet in diesem Buche
Lehrsätze, auf denen die Arithmetik beruht, mit Zeichen bewiesen,
deren Ganzes ich Begriffsschrift nenne. Die wichtigsten dieser
Sätze sind am Ende zum Theil mit angefügter Uebersetzung
zusammengestellt. Wie man sieht, sind die negativen, gebrochenen,
irrationalen und Ersetzung von - nnd
- durch - und - [Fehlertyp: orth | Rev.:
thiel] complexen Zahlen hier
noch von der Betrachtung ausgeschlossen, ebenso auch Addition,
Multiplication u. s. w. Auch die Sätze von den Anzahlen sind noch
nicht in der zuerst geplanten Vollständigkeit vorhanden.
Insbesondere fehlt noch der Satz, dass die Anzahl der unter einen
Begriff fallenden Gegenstände endlich ist, wenn die Anzahl der
Gegenstände endlich ist, die unter einen übergeordneten Begriff
fallen. Aeussere Gründe haben mich bestimmt, dies, sowie die
Behandlung der ändern Zahlen und der Rechnungsarten einer
Fortsetzung vorzubehalten, deren Erscheinen von der Aufnahme
abhängig sein wird, die dieser erste Band findet. Was ich hier
geboten habe, mag hinreichen, von meiner Weise eine Vorstellung
zu geben. Man könnte meinen, dass die Sätze über die Anzahl
Endlos
hätten fehlen können. Zur Begründung der Arithmetik im
hergebrachten Umfange sind sie allerdings nicht nöthig; aber ihre
Ableitung ist meist einfacher als die der entsprechenden Sätze
für endliche Anzahlen und kann als Vorbereitung für sie dienen.
Noch kommen Sätze vor, die nicht von Anzahlen handeln, die aber
zu den Beweisen gebraucht werden. Sie handeln z. B. vom Folgen in
einer Reihe, von der Eindeutigkeit von Beziehungen, von
zusammengesetzten und gekoppelten Beziehungen, von der Abbildung
durch Beziehungen u. dergl. Diese Sätze könnte man vielleicht
einer erweiterten Combinationslehre zuweisen. Die Beweise sind allein in den mit „Aufbau“
überschriebenen Paragraphen enthalten, während die mit
„Zerlegung“ überschriebenen das Verständniss erleichtern sollen,
indem sie vorläufig den Gang des Beweises in groben Umrissen
vorzeichnen. Die Beweise selbst enthalten keine Worte, sondern
sind allein mit meinen Zeichen geführt. Sie stellen sich dem Auge
dar als eine Reihe von Formeln, die durch ausgezogene oder
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unterbrochene Striche oder andere Zeichen getrennt sind. Jede
dieser Formeln ist ein vollständiger Satz mit allen Bedingungen,
die zu seiner Gültigkeit nothwendig sind. Diese Vollständigkeit,
welche stillschweigend hinzuzudenkende Voraussetzungen nicht
duldet, scheint mir für die Strenge der Beweisführung
unentbehrlich zu sein. Der
Fortschritt von einem Satze zum nächsten geht nach den Regeln vor
sich, die im § 48
zusammengestellt sind, und kein Uebergang geschieht, der nicht
diesen Regeln gemäss wäre. Wie und nach welcher Regel die
Folgerung gemacht wird, deutet das zwischen den Formeln stehende
Zeichen an, während −−−− • −−−− eine Schlusskette
abschliesst. Es muss hierbei Sätze geben, die nicht aus andern
abgeleitet werden. Solche sind theils die Grundgesetze, die ich
im § 47 zusammengestellt habe,
theils die Definitionen, die man am Ende in einer Tafel vereinigt
findet mit Hinweis auf die Stellen, wo sie zuerst vorkommen. Bei
einer Fortsetzung dieses Unternehmens wird immer wieder das
Bedürfniss von Definitionen hervortreten. Die Grundsätze, die
dabei maassgebend sein müssen, sind im § 33 aufgeführt. Die Definitionen sind
nicht eigentlich schöpferisch und dürfen es, wie ich glaube,
nicht sein; sie führen nur abkürzende Bezeichnungen (Namen) ein,
die entbehrt werden könnten, wenn nicht sonst die Weitläufigkeit
unüberwindliche äussere Schwierigkeiten machte. Das Ideal einer streng wissenschaftlichen
Methode der Mathematik, das ich hier zu verwirklichen gestrebt
habe, und das wohl nach Euklid benannt werden könnte, möchte ich
so schildern. Dass Alles bewiesen werde, kann zwar nicht verlangt
werden, weil es unmöglich ist; aber man kann fordern, dass alle
Sätze, die man braucht, ohne sie zu beweisen, ausdrücklich als
solche ausgesprochen werden, damit man deutlich erkenne, worauf
der ganze Bau beruhe. Es muss danach gestrebt werden, die Anzahl
dieser Urgesetze möglichst zu verringern, indem man Alles
beweist, was beweisbar ist. Ferner, und darin gehe ich über
Euklid hinaus, verlange ich, dass alle Schluss- und
Folgerungsweisen, die zur Anwendung kommen, vorher aufgeführt
werden. Sonst ist die Erfüllung jener ersten Forderung nicht
sicher zu stellen. Dieses Ideal glaube ich nun im Wesentlichen
erreicht zu haben. Nur in wenig Punkten könnte man noch strengere
Anforderungen stellen. Um mir mehr Beweglichkeit zu sichern und
nicht in übermässige Breite zu verfallen, habe ich mir erlaubt,
von der Vertauschbarkeit der Unterglieder (Bedingungen) und von
der Verschmelzbarkeit gleicher Unterglieder stillschweigend
Gebrauch zu machen, und habe die Schluss- und Folgerungsweisen
nicht auf die geringste Zahl zurückgeführt. Wer mein Büchlein
Begriffsschrift kennt, wird daraus
entnehmen können, wie man auch hierin den strengsten
Anforderungen genügen könnte, zugleich aber auch, dass dies eine
beträchtliche Zunahme des Umfanges nach sich zöge. Im Uebrigen, glaube ich, werden die
Ausstellungen, die man mit Recht
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bei diesem Buche machen kann, nicht die Strenge betreffen,
sondern nur die Wahl des Beweisganges und der Zwischenstufen. Oft
stehen mehre Wege offen, einen Beweis zu führen; ich habe sie
nicht alle zu betreten versucht, und so ist es möglich, ja
wahrscheinlich, dass ich nicht immer den kürzesten gewählt habe.
Wer in dieser Hinsicht etwas zu tadeln hat, der mache es besser.
Ueber Anderes wird sich streiten lassen. Einige würden vielleicht
vorgezogen haben, den Umkreis der zugelassenen Schluss-und
Folgerungsweisen weiter zu ziehen und dadurch grössere
Beweglichkeit und Kürze zu erzielen. Aber irgendwo muss man hier
Halt machen, wenn man überhaupt mein aufgestelltes Ideal billigt,
und wo man auch Halt macht, würden immer Leute sagen können: es
wäre besser gewesen, noch mehr Schlussweisen
zuzulassen. Durch die
Lückenlosigkeit der Schlussketten wird erreicht, dass jedes
Axiom, jede Voraussetzung, Hypothese, oder wie man es sonst
nennen will, auf denen ein Beweis beruht, ans Licht gezogen wird;
und so gewinnt man eine Grundlage für die Beurtheilung der
erkenntnisstheoretischen Natur des bewiesenen Gesetzes. Es ist
zwar schon vielfach ausgesprochen worden, dass die Arithmetik nur
weiter entwickelte Logik sei; aber das bleibt solange
bestreitbar, als in den Beweisen Uebergänge vorkommen, die nicht
nach anerkannten logischen Gesetzen geschehn, sondern auf einem
anschauenden Erkennen zu beruhen scheinen. Erst wenn diese
Uebergänge in einfache logische Schritte zerlegt sind, kann man
sich überzeugen, dass nichts als Logik zu Grunde liegt. Ich habe
Alles zusammengestellt, was die Beurtheilung erleichtern kann, ob
die Schlussketten bündig und die Widerlager fest sind. Wenn etwa
jemand etwas fehlerhaft finden sollte, muss er genau angeben
können, wo der Fehler seiner Meinung nach steckt: in den
Grundgesetzen, in den Definitionen, in den Regeln oder ihrer
Anwendung an einer bestimmten Stelle. Wenn man Alles in Ordnung
findet, so kennt man damit die Grundlagen genau, auf denen jeder
einzelne Lehrsatz beruht. Ein Streit kann hierbei, soviel ich
sehe, nur um mein Grundgesetz der Werthverläufe (V) entbrennen, das von den Logikern
vielleicht noch nicht eigens ausgesprochen ist, obwohl man danach
denkt, z. B. wenn man von Begriffsumfängen redet. Ich halte es
für rein logisch. Jedenfalls ist hiermit die Stelle bezeichnet,
wo die Entscheidung fallen muss. Mein Zweck erfordert manche Abweichungen von
dem, was in der Mathematik üblich ist. Die Anforderungen an die
Strenge der Beweisführung haben eine grössere Länge zur
unausweichlichen Folge. Wer dies nicht im Auge hat, wird sich in
der That wundern, wie umständlich hier oft ein Satz bewiesen
wird, den er in einer einzigen Erkenntnissthat unmittelbar
einzusehen glaubt. Besonders wird dies auffallen, wenn man die
Schrift des Herrn Dedekind Was sind und was
sollen die Zahlen? vergleicht, das Gründlichste, was mir
in der letzten Zeit über die Grundlegung der Arithmetik zu
Gesicht gekommen ist. Sie verfolgt auf einem weit
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kleineren Raume die Gesetze der Arithmetik weit höher hinauf, als
es hier geschieht. Diese Kürze wird freilich nur dadurch
erreicht, dass Vieles überhaupt nicht eigentlich bewiesen wird.
Herr Dedekind sagt oft nur, dass der Beweis aus den und den
Sätzen folge; er gebraucht Pünktchen, wie in „M(A, B, C, …)“; nirgends ist bei ihm eine
Zusammenstellung der von ihm zu Grunde gelegten logischen oder
andern Gesetze zu finden, und wenn sie da wäre, hätte man keine
Möglichkeit, zu prüfen, ob wirklich keine andern angewendet
wären; denn dazu müssten die Beweise nicht nur angedeutet,
sondern lückenlos ausgeführt sein. Auch Herr Dedekind ist der
Meinung, dass die Lehre von den Zahlen ein Theil der Logik sei;
aber seine Schrift trägt kaum dazu bei, diese Meinung zu
erhärten, weil die von ihm angewendeten Ausdrücke „System“, „ein
Ding gehört zu einem Dinge“ in der Logik nicht üblich sind und
nicht auf anerkannt Logisches zurückgeführt werden. Ich sage dies
nicht als Vorwurf; denn sein Verfahren mag für ihn das
zweckdienlichste gewesen sein; ich sage es nur, um meine Absicht
durch den Gegensatz in helleres Licht zu setzen. Die Länge eines
Beweises soll man nicht mit der Elle messen. Man kann ja leicht
einen Beweis auf dem Papiere kurz erscheinen lassen, indem man
viele Zwischenglieder in der Schlusskette überspringt und manches
nur andeutet. Man begnügt sich ja meistens damit, dass jeder
Schritt im Beweise als richtig einleuchte, und das darf man auch,
wenn man nur von der Wahrheit des zu beweisenden Satzes
überzeugen will. Wenn es sich aber darum handelt, eine Einsicht
in die Natur dieses Einleuchtens zu vermitteln, genügt dies
Verfahren nicht, sondern man muss alle Zwischenstufen
hinschreiben, um das volle Licht des Bewusstseins auf sie fallen
zu lassen. Den Mathematikern kommt es ja gewöhnlich nur auf den
Inhalt des Satzes an, und dass er bewiesen werde. Hier ist das
Neue nicht der Inhalt des Satzes, sondern wie der Beweis geführt
wird, auf welche Grundlagen er sich stützt. Dass dieser
wesentlich verschiedene Gesichtspunkt auch eine andere
Behandlungsweise erfordert, darf nicht befremden. Wenn man einen
unserer Sätze in üblicher Weise ableitet, wird leicht ein Satz
übersehen werden, der zum Beweise unnöthig zu sein scheint. Bei
genauer Durchdenkung meines Beweises wird man, glaube ich, denn
doch seine Unentbehrlichkeit einsehen, wenn man nicht etwa einen
ganz andern Weg einschlagen will. So findet man auch vielleicht
in unsern Sätzen hier und da Bedingungen, die zuerst als unnöthig
auffallen, die sich aber doch als nothwendig erweisen, oder
wenigstens nur mit einem eigens zu beweisenden Satze entfernt
werden können. Ich führe hiermit ein
Vorhaben aus, das ich schon bei meiner Begriffsschrift vom Jahre 1879 im Auge gehabt und
in meinen Grundlagen der Arithmetik
vom Jahre 1884 angekündigt habe.
Ich will hier durch die
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That die Ansicht über die Anzahl bewähren, die ich in dem zuletzt
genannten Buche dargelegt habe. Das Grundlegende meiner
Ergebnisse sprach ich dort im §
46 so aus, dass die Zahlangabe eine Aussage von einem
Begriffe enthalte; und darauf beruht hier die Darstellung. Wenn
jemand anderer Ansicht ist, so versuche er es, darauf eine
folgerechte und brauchbare Darstellung durch Zeichen zu gründen,
und er wird sehn, dass es nicht geht. In der Sprache ist die
Sachlage freilich nicht so durchsichtig; aber wenn man genau
zusieht, findet man, dass auch hier bei einer Zahlangabe immer
ein Begriff genannt wird, nicht eine Gruppe, ein Aggregat oder
dergl., und dass, wo dies doch einmal vorkommen sollte, die
Gruppe oder das Aggregrat immer durch einen Begriff bestimmt ist,
d. h. durch die Eigenschaften, die ein Gegenstand haben muss, um
zu der Gruppe zu gehören, während das, was die Gruppe zur Gruppe,
das System zum System macht, die Beziehungen der Glieder zu
einander, für die Anzahl völlig gleichgültig ist. Der Grund, warum die Ausführung so spät nach
der Ankündigung erscheint, liegt zum Theil in innern Umwandlungen
der Begriffsschrift, die mich zur Verwerfung einer
handschriftlich fast schon vollendeten Arbeit genöthigt haben.
Diese Fortschritte mögen hier kurz erwähnt werden. Die in meiner
Begriffsschrift verwendeten Urzeichen
kommen hier mit einer Ausnahme wieder vor. Statt der drei
parallelen Striche habe ich nämlich das gewöhnliche
Gleichheitszeichen gewählt, da ich mich überzeugt habe, dass es
in der Arithmetik grade die Bedeutung hat, die auch ich
bezeichnen will. Ich gebrauche nämlich das Wort „gleich“ in
derselben Bedeutung wie „zusammenfallend mit“ oder „identisch
mit“, und so wird das Gleichheitszeichen auch in der Arithmetik
wirklich gebraucht. Der Widerspruch, der sich etwa hiergegen
erhebt, wird wohl auf mangelhafter Unterscheidung von Zeichen und
Bezeichnetem, beruhen. Freilich ist in der Gleichung ‚22=2+2‘ das links stehende Zeichen
verschieden von dem rechts stehenden; aber beide bezeichnen oder
bedeuten dieselbe Zahl.
Zu den alten Urzeichen sind nun noch zwei hinzugekommen: der
Spiritus lenis zur Bezeichnung des Werthverlaufs einer Function
und ein Zeichen, das den bestimmten Artikel der Sprache vertreten
soll. Die Einführung der Werthverläufe der Functionen ist ein
wesentlicher Fortschritt, dem eine weit grössere Beweglichkeit zu
verdanken ist. Die früheren abgeleiteten Zeichen können nun durch
andere, und zwar einfachere ersetzt werden, obwohl die
Definitionen der Eindeutigkeit einer Beziehung, des Folgens in
einer Reihe, der Abbildung im Wesentlichen dieselben sind, die
ich theils in meiner Begriffsschrift, theils in meinen
Grundlagen der Arithmetik gegeben
habe. Die
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Werthverläufe haben aber auch eine grosse grundsätzliche
Wichtigkeit; definire ich doch die Anzahl selbst als einen
Begriffsumfang, und Begriffsumfänge sind nach meiner Bestimmung
Werthverläufe. Ohne diese wäre also gar nicht auszukommen. Die
alten äusserlich unverändert wieder auftretenden Urzeichen, deren
Algorithmus sich auch kaum geändert hat, sind doch mit andern
Erklärungen versehen worden. Der frühere Inhaltsstrich erscheint
als Wagerechter wieder. Das sind Folgen einer eingreifenden
Entwickelung meiner logischen Ansichten. Ich hatte früher in dem,
dessen äussere Form ein Behauptungssatz ist, zweierlei
unterschieden: 1) die Anerkennung der Wahrheit, 2) den Inhalt,
der als wahr anerkannt wird. Den Inhalt nannte ich beurtheilbaren
Inhalt. Dieser ist mir nun zerfallen in das, was ich Gedanken,
und das, was ich Wahrheitswerth nenne. Das ist die Folge der
Unterscheidung von Sinn und Bedeutung eines Zeichens. In diesem
Falle ist der Sinn des Satzes der Gedanke und seine Bedeutung der
Wahrheitswerth. Dazu kommt dann noch die Anerkennung, dass der
Wahrheitswerth das Wahre sei. Ich unterscheide nämlich zwei
Wahrheitswerthe: das Wahre und das Falsche. Dies habe ich in
meinem oben erwähnten Aufsatze über Sinn und Bedeutung
eingehender begründet. Hier mag nur erwähnt werden, dass die
ungerade Rede nur so richtig aufgefasst werden kann. Der Gedanke
nämlich, der sonst Sinn des Satzes ist, wird in der ungeraden
Rede seine Bedeutung. Wieviel einfacher und schärfer durch die
Einführung der Wahrheitswerthe Alles wird, kann nur eine
eingehende Beschäftigung mit diesem Buche lehren. Diese Vortheile
allein schon legen ein grosses Gewicht in die Wagschale zu
Gunsten meiner Auffassung, die freilich auf den ersten Blick
befremden mag. Auch ist das Wesen der Function im Unterschiede
vom Gegenstande schärfer als in meiner Begriffsschrift gekennzeichnet. Daraus ergiebt
sich weiter die Unterscheidung der Functionen erster und zweiter
Stufe. Wie ich in meinem Vortrage über Function und Begriff
ausgeführt habe, sind Begriffe und Beziehungen Functionen in der
von mir erweiterten Bedeutung dieses Wortes, und so haben wir
auch Begriffe erster und zweiter Stufe, gleichstufige und
ungleichstufige Beziehungen zu unterscheiden. Wie man sieht, sind die Jahre nicht vergebens
seit dem Erscheinen meiner Begriffsschrift und meiner Grundlagen verflossen: sie haben das Werk
gereift. Aber grade das, was ich als wesentlichen Fortschritt
erkenne, steht, wie ich mir nicht verhehlen kann, der Verbreitung
und der Wirksamkeit meines Buches als grosses Hemmniss im Wege.
Und worin ich seinen Werth nicht zum geringsten Theile sehe, die
strenge Lückenlosigkeit der Schlussketten wird ihm, wie ich
fürchte, wenig Dank einbringen. Ich habe mich von den
hergebrachten Auffassungsweisen weiter
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entfernt und dadurch meinen Ansichten ein paradoxes Gepräge
aufgedrückt. Leicht wird ein Ausdruck, der hier oder da beim
flüchtigen Durchblättern aufstösst, befremdlich erscheinen und
ein ungünstiges Vorurtheil erzeugen. Ich selbst kann ja das
Widerstreben einigermaassen abschätzen, dem meine Neuerungen
begegnen werden, weil ich selbst ein ähnliches erst in mir
überwinden musste, um sie zu machen. Denn nicht aufs Gerathewohl
und aus Neuerungssucht, sondern durch die Sache selbst gedrängt,
bin ich dahin gelangt. Hiermit komme
ich auf den zweiten Grund der Verspätung: die Muthlosigkeit, die
mich zeitweilig überkam angesichts der kühlen Aufnahme, oder
besser gesagt, des Mangels an Aufnahme meiner oben genannten
Schriften bei den Mathematikern
und der Ungunst der wissenschaftlichen Strömungen, gegen die mein
Buch zu kämpfen haben wird. Schon der erste Eindruck muss
abschrecken: unbekannte Zeichen, seitenlang nur fremdartige
Formeln. So habe ich mich denn zu Zeiten andern Gegenständen
zugewendet. Aber auf die Dauer konnte ich doch die Ergebnisse
meines Denkens, die mir werthvoll schienen, nicht in meinem Pulte
verschliessen, und die aufgewendete Arbeit forderte immer neue
Arbeit, um nicht vergeblich zu sein. So liess mich die Sache
nicht los. In einem Falle wie hier, wo der Werth eines Buches
durch flüchtiges Durchlesen nicht erkannt werden kann, sollte die
Kritik helfend einspringen. Aber sie wird im Allgemeinen zu
schlecht bezahlt. Ein Kritiker wird nie hoffen können, für die
Mühe, die ein gründliches Durcharbeiten dieses Buches in Aussicht
stellt, in Geld entschädigt zu werden. Mir bleibt nur übrig zu
hoffen, jemand möge von vorneherein soviel Vertrauen zu der Sache
schöpfen, dass er in dem innern Gewinn eine hinreichende
Belohnung erwartet, und er werde dann das Ergebniss seiner
reiflichen Prüfung der Oeffentlichkeit Ersetzung von - Oeffentlickeit - durch - Oeffentlichkeit -
[Fehlertyp: orth | Rev.: bonn] übergeben. Nicht, als
ob mich nur eine lobende Besprechung befriedigen könnte; im
Gegentheil! eine auf gründlicher Kenntnissnahme gestützte
Bekämpfung kann mir nur lieber sein als ein Lob, das sich in
allgemeinen Wendungen ergeht, ohne den Kern der Sache zu
berühren. Einem Leser, der mit solchen Absichten an das Buch
herantritt, möchte ich hier durch einige Winke die Arbeit
erleichtern. Um vorerst eine
ungefähre Vorstellung zu gewinnen, wie ich mit meinen Zeichen
Gedanken ausdrücke, wird es dienlich sein, in der Tafel der
wichtigeren Lehrsätze einige der einfacheren näher zu betrachten,
denen eine Uebersetzung angehängt ist. Man wird dann auch
errathen können, was andere jenen ähnliche besagen wollen, denen
keine Uebersetzung folgt. Darauf möge man mit der Einleitung
anfangen und die Darlegung der Begriffsschrift in Angriff nehmen.
Doch rathe ich, zunächst nur flüchtige Kenntniss davon
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zu nehmen und sich bei einzelnen Bedenken nicht zu lange
aufzuhalten. Einige Betrachtungen mussten zwar aufgenommen
werden, um allen Einwänden begegnen zu können, sind aber für das
Verständniss der Begriffsschriftsätze unwesentlich. Ich rechne
dahin die zweite Hälfte des §
8, die auf S. 12 mit den Worten „Wenn wir nun erklären“
beginnt, ferner die zweite Hälfte
des § 9, die auf S. 15 mit den Worten „Wenn ich allgemein
sage“ beginnt, und den ganzen §
10. Diese Stellen mögen beim ersten Lesen ganz überschlagen
werden. Dasselbe gilt von den § 26 und 28
bis 32. Dagegen möchte ich als für das Verständniss besonders
wichtig die erste Hälfte des §
8, ferner die § 12 und 13
hervorheben. Ein genaueres Durchlesen möge mit §34 beginnen und bis zum Schlusse
andauern. Man wird dann gelegentlich auf die nur flüchtig
gelesenen § zurückkommen müssen. Das Wörterverzeichniss am
Schlusse und das Inhaltsverzeichniss werden das erleichtern. Die
Ableitungen in den § 49 bis 62
können als Vorbereitung für das Verständniss der Beweise selbst
dienen. Alle Weisen des Folgerns und Schliessens und fast alle
der Anwendungen unserer Grundgesetze kommen hier schon vor.
Nachdem man so bis ans Ende gelangt ist, möge man die Darlegung
der Begriffsschrift noch einmal im Zusammenhange und vollständig
lesen und sich dabei vor Augen halten, dass die Festsetzungen,
die später nicht gebraucht werden und darum unnöthig scheinen,
zur Durchführung des Grundsatzes dienen, dass alle rechtmässig
gebildeten Zeichen etwas bedeuten sollen, eines Grundsatzes, der
für die volle Strenge wesentlich ist. So wird, glaube ich, das
Misstrauen allmählich schwinden, das meine Neuerungen zunächst
erwecken mögen. Der Leser wird erkennen, dass meine Grundsätze
nirgends zu Folgerungen führen, die er nicht selbst als richtig
anerkennen muss. Vielleicht wird er dann auch zugeben, dass er
die Arbeit zuerst überschätzt hatte, dass mein sprungloses
Vorgehen doch auch wieder das Verständniss erleichtert, nachdem
einmal das in der Neuheit der Zeichen liegende Hinderniss
überwunden ist. Möge es mir glücken, einen solchen Leser und
Beurtheiler zu finden! denn eine auf oberflächlicher Durchsicht
gegründete Anzeige könnte leicht mehr schaden als
nützen. Sonst sind die Aussichten
meines Buches freilich gering. Jedenfalls müssen alle
Mathematiker aufgegeben werden, die beim Aufstossen von logischen
Ausdrücken, wie „Begriff“, „Beziehung“, „Urtheil“ denken:
metaphysica sunt, non leguntur! und
ebenso die Philosophen, die beim Anblicke einer Formel ausrufen:
mathematica sunt, non leguntur! und
sehr wenige mögen das nicht sein. Vielleicht ist die Zahl der
Mathematiker überhaupt nicht gross, die sich um die Grundlegung
ihrer Wissenschaft bemühen, und auch diese scheinen oft grosse
Eile zu haben, bis sie die Anfangsgründe hinter sich haben. Und
ich wage kaum zu hoffen, dass meine Gründe für die peinliche
Strenge und damit verbundene Breite viele von ihnen überzeugen
werden. Hat doch das einmal Hergebrachte grosse
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Macht über die Gemüther. Wenn ich die Arithmetik mit einem Baume
vergleiche, der sich oben in eine Mannichfaltigkeit von Methoden
und Lehrsätzen entfaltet, während die Wurzel in die Tiefe strebt,
so scheint mir der Wurzeltrieb, in Deutschland wenigstens,
schwach zu sein. Selbst in einem Werke, das man dieser Richtung
zuzählen möchte, der Algebra der Logik des Herrn E. Schröder,
gewinnt doch bald der Wipfeltrieb wieder die Oberhand, bevor noch
eine grössere Tiefe erreicht ist, bewirkt ein Umbiegen nach oben
und eine Entfaltung in Methoden und Lehrsätze. Ungünstig für mein Buch ist auch die weit
verbreitete Neigung, nur das Sinnliche als vorhanden
anzuerkennen. Was nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann,
sucht man zu leugnen oder doch zu übersehen. Nun sind die
Gegenstände der Arithmetik, die Zahlen unsinnlicher Art; wie
findet man sich damit ab? Sehr einfach! man erklärt die
Zahlzeichen für die Zahlen. In den Zeichen hat man dann etwas
Sichtbares, und das ist ja doch die Hauptsache. Freilich haben
die Zeichen ganz andere Eigenschaften als die Zahlen selbst; aber
was thut’s? Man dichtet ihnen die gewünschten Eigenschaften durch
sogenannte Definitionen einfach an. Wie freilich eine Definition
statthaben kann, wo gar kein Zusammenhang zwischen Zeichen und
Bezeichnetem in Frage kommt, ist ein Räthsel. Man knetet Zeichen
und Bezeichnetes möglichst ununterscheidbar zusammen; jenachdem
es erforderlich ist, kann man dann die Existenz mit Hinweis auf
die Greifbarkeit behaupten,
oder die eigentlichen Zahleigenschaften hervorkehren. Zuweilen
scheint man die Zahlzeichen wie Schachfiguren anzusehen und die
sogenannten Definitionen als Spielregeln. Das Zeichen bezeichnet
dann nichts, sondern ist die Sache selbst. Eine Kleinigkeit
übersieht man freilich dabei, dass wir nämlich mit ‚32+42=52‘ einen Gedanken
ausdrücken, während eine Stellung von Schachfiguren nichts
besagt. Wo man sich mit solchen Oberflächlichkeiten zufrieden
giebt, ist für eine tiefere Auffassung freilich kein
Boden. Es kommt hier darauf an, sich
klar zu machen, was Definiren ist und was dadurch erreicht werden
kann. Man scheint ihm vielfach eine schöpferische Kraft
zuzutrauen, während doch dabei weiter nichts geschieht, als dass
etwas abgrenzend hervorgehoben und mit einem Namen bezeichnet
wird. Wie der Geograph kein Meer schafft, wenn er Grenzlinien
zieht und sagt: den von diesen Linien begrenzten Theil der
Wasserfläche will ich Gelbes Meer nennen, so kann auch der
Mathematiker durch sein Definiren nichts eigentlich schaffen. Man
kann auch nicht einem Dinge durch blosse Definition eine
Eigenschaft anzaubern, die es nun einmal nicht hat, es sei denn
die eine, nun so zu heissen, wie man es etwa benannt hat. Dass
aber ein
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eirundes Gebilde, das man mit Tinte auf Papier hervorbringt,
durch eine Definition die Eigenschaft erhalten sollte, zu Eins
addirt, Eins zu ergeben, kann ich nur für einen
wissenschaftlichen Aberglauben halten. Ebensogut könnte man durch
blosse Definition einen faulen Schüler fleissig machen.
Unklarheit entsteht hier leicht durch die mangelnde
Unterscheidung von Begriff und Gegenstand. Wenn man sagt:
„Quadrat ist ein Rechteck, in dem zusammenstossende Seiten gleich
sind“, so definirt man den Begriff Quadrat, indem man angiebt, welche Eigenschaften
etwas haben muss, um unter diesen Begriff zu fallen. Diese
Eigenschaften nenne ich Merkmale des Begriffes. Aber, wohl
gemerkt, diese Merkmale des Begriffes sind nicht seine
Eigenschaften. Der Begriff Quadrat
ist nicht ein Rechteck, nur die Gegenstände, die etwa unter
diesen Begriff fallen, sind Rechtecke, wie auch der Begriff
schwarzes Tuch weder schwarz noch ein
Tuch ist. Ob es solche Gegenstände giebt, ist durch die
Definition unmittelbar noch nicht bekannt. Nun will man z. B. die
Zahl Null definiren, indem man sagt: sie ist etwas, was, zu Eins
addirt, Eins ergiebt. Damit hat man einen Begriff definirt, indem
man angegeben hat, welche Eigenschaft ein Gegenstand haben muss,
um unter den Begriff zu fallen. Aber diese Eigenschaft ist nicht
Eigenschaft des definirten Begriffes. Wie es scheint, bildet man
sich nun vielfach ein, man habe durch die Definition etwas
geschaffen, was, zu Eins addirt, Eins ergiebt. Grosse Täuschung!
Weder hat der definirte Begriff diese Eigenschaft noch leistet
die Definition Gewähr dafür, dass der Begriff erfüllt sei. Das
bedarf erst einer Untersuchung. Erst wenn man bewiesen hat, dass
es einen Gegenstand und nur einen einzigen von der verlangten
Eigenschaft giebt, ist man in der Lage, diesen Gegenstand mit dem
Eigennamen „Null“ zu belegen. Die Null zu schaffen, ist also
unmöglich. Solches ist von mir schon wiederholt dargelegt worden,
aber, wie es scheint, ohne Erfolg. Auch
bei der herrschenden Logik wird auf kein Verständniss für den
Unterschied zu hoffen sein, den ich zwischen dem Merkmal eines
Begriffes und der Eigenschaft eines Gegenstandes mache;
denn sie scheint durch und durch psychologisch verseucht zu sein.
Wenn man statt der Dinge selbst nur ihre subjectiven Abbilder,
die Vorstellungen betrachtet, gehen natürlich alle feinern
sachlichen Unterschiede verloren, und es treten dafür andere auf,
die logisch völlig werthlos sind. Und damit komme ich auf das zu
sprechen, was der Wirkung meines Buches bei den Logikern im Wege
steht. Es ist der verderbliche Einbruch der Psychologie in die
Logik. Entscheidend für die Behandlung dieser Wissenschaft muss
die Auffassung der logischen Gesetze sein, und das hängt wieder
damit zusammen, wie
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man das Wort „wahr“ versteht. Dass die logischen Gesetze
Richtschnuren für das Denken sein sollen zur Erreichung der
Wahrheit, wird zwar vorweg allgemein zugegeben; aber es geräth
nur zu leicht in Vergessenheit. Der Doppelsinn des Wortes
„Gesetz“ ist hier verhängnissvoll. In dem einen Sinne besagt es,
was ist, in dem andern schreibt es vor, was sein soll. Nur in
diesem Sinne können die logischen Gesetze Denkgesetze genannt
werden, indem sie festsetzen, wie gedacht werden soll. Jedes
Gesetz, das besagt, was ist, kann aufgefasst werden als
vorschreibend, es solle im Einklänge damit gedacht werden, und
ist also in dem Sinne ein Denkgesetz. Das gilt von den
geometrischen und physikalischen nicht minder als von den
logischen. Diese verdienen den Namen „Denkgesetze“ nur dann mit
mehr Recht, wenn damit gesagt sein soll, dass sie die
allgemeinsten sind, die überall da vorschreiben, wie gedacht
werden soll, wo überhaupt gedacht wird. Aber das Wort
„Denkgesetz“ verleitet zu der Meinung, diese Gesetze regierten in
derselben Weise das Denken, wie die Naturgesetze die Vorgänge in
der Aussenwelt. Dann können sie nichts anderes als psychologische
Gesetze sein; denn das Denken ist ein seelischer Vorgang. Und
wenn die Logik mit diesen psychologischen Gesetzen zu thun hätte,
so wäre sie ein Theil der Psychologie. Und so wird sie in der
That aufgefasst. Als Richtschnuren können diese Denkgesetze dann
in der Weise aufgefasst werden, dass sie einen mittlern
Durchschnitt angeben, ähnlich wie man sagen kann, wie die gesunde
Verdauung beim Menschen vor sich geht, oder wie man grammatisch
richtig spricht, oder wie man sich modern kleidet. Man kann dann
nur sagen: nach diesen Gesetzen richtet sich im Durchschnitt das
Fürwahrhalten der Menschen, jetzt und soweit die Menschen bekannt
sind; wenn man also mit dem Durchschnitte im Einklang bleiben
will, richte man sich nach ihnen. Aber, wie das, was heute modern
ist, nach einiger Zeit nicht mehr modern sein wird und bei den
Chinesen jetzt nicht modern ist, so kann man die psychologischen
Denkgesetze auch nur mit Einschränkungen als maassgebend
hinstellen. Ja, wenn es sich in der Logik um das
Fürwahrgehaltenwerden handelte, und nicht vielmehr um das
Wahrsein! Und das verwechseln die psychologischen Logiker. So
setzt Herr B. Erdmann im ersten Bande seiner Logik
S. 272 bis S. 275 die Wahrheit mit Allgemeingültigkeit gleich und
gründet diese auf die Allgemeingewissheit des Gegenstandes, von
dem geurtheilt wird, und diese wieder auf die allgemeine
Uebereinstimmung der Urtheilenden. So wird denn schliesslich die
Wahrheit auf das Fürwahrhalten der Einzelnen zurückgeführt. Dem
gegenüber kann ich nur sagen: Wahrsein ist etwas anderes als
Fürwahrgehaltenwerden, sei es von Einem, sei es von Vielen, sei
es von Allen, und ist in keiner Weise darauf zurückzuführen. Es
ist kein Widerspruch, dass etwas
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wahr ist, was von Allen für falsch gehalten wird. Ich verstehe
unter logischen Gesetzen nicht psychologische Gesetze des
Fürwahrhaltens, sondern Gesetze des Wahrseins. Wenn es wahr ist,
dass ich dies am 13. Juli 1893 in meiner Stube schreibe, während
draussen der Wind heult, so bleibt es wahr, auch wenn alle
Menschen es später für falsch halten sollten. Wenn so das
Wahrsein unabhängig davon ist, dass es von irgendeinem anerkannt
wird, so sind auch die Gesetze des Wahrseins nicht psychologische
Gesetze, sondern Grenzsteine in einem ewigen Grunde befestigt,
von unserm Denken überfluthbar zwar, doch nicht verrückbar. Und
weil sie das sind, sind sie für unser Denken maassgebend, wenn es
die Wahrheit erreichen will. Sie stehen nicht in dem Verhältnisse
zum Denken, wie die grammatischen Gesetze zur Sprache, so dass
sie das Wesen unseres menschlichen Denkens zum Ausdruck brächten
und sich mit ihm änderten. Ganz anders ist natürlich die
Auffassung der logischen Gesetze bei Herrn Erdmann. Dieser
bezweifelt ihre unbedingte, ewige Geltung und will sie
einschränken auf unser Denken, wie es jetzt ist (S. 375 ff.).
„Unser Denken“ kann doch wohl nur heissen das Denken der bis
jetzt bekannten Menschheit. Danach bliebe die Möglicheit offen,
dass Menschen oder sonstige Wesen entdeckt würden, die unsern
logischen Gesetzen widersprechende Urtheile vollziehen könnten.
Wenn das nun geschähe? Herr Erdmann würde sagen: Da sehen wir,
dass jene Grundsätze nicht überall gelten. Gewiss! wenn sie
psychologische Gesetze sein sollen, muss ihr Wortausdruck die
Gattung von Wesen kenntlich machen, deren Denken erfahrungsmässig
durch sie beherrscht wird. Ich würde sagen: Es giebt also Wesen,
welche gewisse Wahrheiten nicht wie wir unmittelbar erkennen,
sondern vielleicht auf den langwierigem Weg der Induction
angewiesen sind. Wie aber, wenn sogar Wesen gefunden würden,
deren Denkgesetze den unsern geradezu widersprächen und also auch
in der Anwendung vielfach zu entgegengesetzten Ergebnissen
führten? Der psychologische Logiker könnte das nur einfach
anerkennen und sagen: Bei denen gelten jene Gesetze, bei uns
diese. Ich würde sagen: Da haben wir eine bisher unbekannte Art
der Verrücktheit. Wer unter logischen Gesetzen solche versteht,
die vorschreiben, wie gedacht werden soll, oder Gesetze des
Wahrseins, nicht Naturgesetze des menschlichen Fürwahrhaltens,
der wird fragen: wer hat Recht? wessen Gesetze des Fürwahrhaltens
sind im Einklange mit den Gesetzen des Wahrseins? Der
psychologische Logiker kann nicht so fragen; denn er erkennte
damit Gesetze des Wahrseins an, die nicht psychologisch wären.
Kann man ärger den Sinn des Wortes „wahr“ fälschen, als wenn man
eine Beziehung auf den Urtheilenden einschliessen will! Man wirft
mir doch nicht etwa ein, dass der Satz „ich bin hungrig“ für den
Einen wahr und für den Andern falsch sein könne? Der Satz wohl,
aber der Gedanke nicht; denn das Wort „ich“ bedeutet in dem Munde
des Andern einen andern Menschen,
Seite XVII
und daher drückt auch der Satz, von dem Andern ausgesprochen,
einen andern Gedanken aus. Alle Bestimmungen des Orts, der Zeit
u. s. w. gehören zu dem Gedanken, um dessen Wahrheit es sich
handelt; das Wahrsein selbst ist ort- und zeitlos. Wie lautet nun
eigentlich der Grundsatz der Identität? etwa so: „Den Menschen
ist es im Jahre 1893 unmöglich, einen Gegenstand als von ihm
selbst verschieden anzuerkennen“ oder so: „Jeder Gegenstand ist
mit sich selbst identisch“? Jenes Gesetz handelt von Menschen und
enthält eine Zeitbestimmung, in diesem ist weder von Menschen
noch von einer Zeit die Rede. Dieses ist ein Gesetz des
Wahrseins, jenes eines des menschlichen Fürwahrhaltens. Ihr
Inhalt ist ganz verschieden, und sie sind von einander
unabhängig, so dass keins von beiden aus dem andern gefolgert
werden kann. Darum ist es sehr verwirrend, beide mit demselben
Namen des Grundgesetzes der Identität zu bezeichnen. Solche
Vermischungen grundverschiedener Dinge sind Schuld an der
gräulichen Unklarheit, die wir bei den psychologischen Logikern
antreffen. Die Frage nun, warum und
mit welchem Rechte wir ein logisches Gesetz als wahr anerkennen,
kann die Logik nur dadurch beantworten, dass sie es auf andere
logische Gesetze zurückführt. Wo das nicht möglich ist, muss sie
die Antwort schuldig bleiben. Aus der Logik heraustretend kann
man sagen: wir sind durch unsere Natur und die äussern Umstände
zum Urtheilen genöthigt, und wenn wir urtheilen, können wir
dieses Gesetz — der Identität z. B. — nicht verwerfen, wir müssen
es anerkennen, wenn wir nicht unser Denken in Verwirrung bringen
und zuletzt auf jedes Urtheil verzichten wollen. Ich will diese
Meinung weder bestreiten noch bestätigen und nur bemerken, dass
wir hier keine logische Folgerung haben. Nicht ein Grund des
Wahrseins wird angegeben, sondern unseres Fürwahrhaltens. Und
ferner: diese Unmöglichkeit, die für uns besteht, das Gesetz zu
verwerfen, hindert uns zwar nicht, Wesen anzunehmen, die es
verwerfen; aber sie hindert uns, anzunehmen, dass jene Wesen
darin Recht haben; sie hindert uns auch, daran zu zweifeln, ob
wir oder jene Recht haben. Wenigstens gilt das von mir. Wenn
Andere es wagen, in einem Athem ein Gesetz anzuerkennen und es zu
bezweifeln, so erscheint mir das als ein Versuch, aus der eignen
Haut zu fahren, vor dem ich nur dringend warnen kann. Wer einmal
ein Gesetz des Wahrseins anerkannt hat, der hat damit auch ein
Gesetz anerkannt, das vorschreibt, wie geurtheilt werden soll, wo
immer, wann immer und von wem immer geurtheilt werden
mag. Ueberblicke ich das Ganze, so
scheint mir die verschiedene Auffassung des Wahren als Ursprung
des Streites. Für mich ist es etwas Objectives, von dem
Urtheilenden Unabhängiges, für psychologische Logiker ist es das
nicht. Was Herr B. Erdmann „objective Gewissheit“ nennt,
Seite XVIII
ist nur eine allgemeine Anerkennung der Urtheilenden, die also
von diesen nicht unabhängig ist, sondern sich mit deren
seelischer Natur ändern kann. Wir
können das noch allgemeiner fassen: ich erkenne ein Gebiet des
Objectiven, Nichtwirklichen an, während die psychologischen
Logiker das Nichtwirkliche ohne weiteres für subjectiv halten.
Und doch ist gar nicht einzusehen, warum das, was einen vom
Urtheilenden unabhängigen Bestand hat, wirklich sein, d. h. doch
wohl fähig sein müsse, unmittelbar oder mittelbar auf die Sinne
zu wirken. Ein solcher Zusammenhang zwischen den Begriffen ist
nicht zu entdecken. Man kann sogar Beispiele anführen, die das
Gegentheil zeigen. Die Zahl Eins z. B. wird man nicht leicht für
wirklich halten, wenn man nicht Anhänger von J. St. Mill ist.
Andrerseits ist es unmöglich, jedem Menschen seine eigne Eins
zuzuweisen; denn dann müsste erst untersucht werden, wie weit die
Eigenschaften dieser Einsen übereinstimmten. Und wenn der Eine
sagte „einmal Eins ist Eins“ und der Andere „einmal Eins ist
Zwei“, so könnte man nur die Verschiedenheit feststellen und
sagen: deine Eins hat jene Eigenschaft, meine diese. Von einem
Streite, wer Recht hätte, oder von einem Belehrungsversuche
könnte nicht die Rede sein; denn dazu fehlte die Gemeinsamkeit
des Gegenstandes. Offenbar ist dies dem Sinne des Wortes „Eins“
und dem Sinne des Satzes „einmal Eins ist Eins“ ganz zuwider. Da
die Eins, als dieselbe für Alle, Allen in gleicher Weise
gegenübersteht, kann sie ebensowenig wie der Mond durch
psychologische Beobachtung erforscht werden. Mag es immerhin
Vorstellungen von der Eins in den einzelnen Seelen geben, so sind
diese doch von der Eins ebenso zu unterscheiden wie die
Vorstellungen des Mondes von dem Monde selbst. Weil die
psychologischen Logiker die Möglichkeit des objectiven
Nichtwirklichen verkennen, halten sie die Begriffe für
Vorstellungen und weisen sie damit der Psychologie zu. Aber die
wahre Sachlage macht sich doch zu mächtig geltend, als dass dies
leicht durchzuführen wäre. Und daher kommt ein Schwanken in den
Gebrauch des Wortes „Vorstellung“, indem es bald etwas zu
bedeuten scheint, was dem Seelenleben des Einzelnen angehört und
nach psychologischen Gesetzen mit andern Vorstellungen
verschmilzt, sich mit ihnen associirt, bald etwas Allen
gleicherweise Gegenüberstehendes, bei dem ein Vorstellender weder
genannt noch auch nur vorausgesetzt wird. Diese beiden
Gebrauchsweisen sind unvereinbar; denn jene Associationen,
Verschmelzungen gehen nur im einzelnen Vorstellenden vor sich und
gehen nur an etwas vor sich, was diesem Vorstellenden ganz so
eigenthümlich zugehört, wie seine Freude oder sein Schmerz es
thut. Man darf nie vergessen, dass die Vorstellungen
verschiedener Menschen, wie ähnlich sie auch sein mögen, was
übrigens von uns nicht genau festzustellen ist, doch nicht in
eine zusammenfallen, sondern zu unterscheiden sind. Jeder hat
seine Vorstellungen, die nicht zugleich die eines Andern sind.
Hier verstehe ich natürlich „Vorstellung“ im psychologischen
Sinne. Der
Seite XIX
schwankende Gebrauch dieses Wortes bewirkt Unklarheit und hilft
den psychologischen Logikern ihre Schwäche verbergen. Wann wird
man dem endlich einmal ein Ende machen! So wird schliesslich
Alles in das Bereich der Psychologie hineingezogen; die Grenze
zwischen Objectivem und Subjectivem verschwindet mehr und mehr,
und selbst wirkliche Gegenstände werden als Vorstellungen
psychologisch behandelt. Denn was ist wirklich anders als ein Prädicat? und was sind
logische Prädicate anders als Vorstellungen? So mündet denn Alles
in den Idealismus und bei grösster Folgerichtigkeit in den
Solipsismus ein. Wenn jeder mit dem Namen „Mond“ etwas Anderes
bezeichnete, nämlich eine seiner Vorstellungen, etwa so, wie er
mit dem Ausrufe „au!“ seinen Schmerz äusserte, so wäre freilich
die psychologische Betrachtungsweise gerechtfertigt; aber ein
Streit über die Eigenschaften des Mondes wäre gegenstandslos: der
Eine könnte von seinem Monde ganz gut das Gegentheil von dem
behaupten, was der Andere mit demselben Rechte von seinem sagte.
Wenn wir nichts erfassen könnten, als was in uns selbst ist, so
wäre ein Widerstreit der Meinungen, eine gegenseitige
Verständigung unmöglich, weil ein gemeinsamer Boden fehlte, und
ein solcher kann keine Vorstellung im Sinne der Psychologie sein.
Es gäbe keine Logik, die berufen wäre, Schiedsrichterin im
Streite der Meinungen zu sein. Doch,
um nicht den Schein zu erwecken, als kämpfte ich gegen
Windmühlen, will ich an einem bestimmten Buche das unrettbare
Versinken in den Idealismus zeigen. Ich wähle dazu die oben
erwähnte Logik des Herrn B. Erdmann als eins der neuesten Werke
der psychologischen Richtung, dem man auch nicht jede
Bedeutsamkeit wird absprechen wollen. Sehen wir uns zunächst
folgenden Satz an (I, S. 85): „So
belehrt die Psychologie mit Sicherheit, dass die Gegenstände der
Erinnerung und der Einbildung sowie diejenigen des krankhaften
hallucinatorischen und illusionären Vorstellens idealer Natur
sind .... Ideal ist ferner das ganze Gebiet der eigentlich
mathematischen Vorstellungen, von der Zahlenreihe bis hinab zu
den Gegenständen der Mechanik.“ Welche Zusammenstellung! Die Zahl Zehn soll
also auf einer Stufe mit Hallucinationen stehen! Hier wird
offenbar das objective Unwirkliche mit dem Subjectiven vermengt.
Einiges Objective ist wirklich, anderes nicht. Wirklich ist nur eines von vielen Prädicaten und
geht die Logik gar nicht näher an, als etwa das Prädicat
algebraisch von einer Curve
ausgesagt. Natürlich verwickelt sich Herr Erdmann durch diese
Vermengung in die Metaphysik, wie sehr er sich auch davon frei zu
halten strebt. Ich halte es für ein sicheres Anzeichen eines
Fehlers, wenn die Logik Metaphysik und Psychologie nöthig hat,
Wissenschaften, die selber der logischen Grundsätze bedürfen. Wo
ist denn hier der eigentliche Urboden, auf dem Alles ruht? oder
ist es wie bei Münchhausen, der sich am eignen Schopfe aus dem
Sumpfe zog? Ich zweifle stark an der Mög-
Seite XX
lichkeit und vermuthe, dass Herr Erdmann im
psychologisch-metaphysischen Sumpfe stecken bleibt. Eine eigentliche Objectivität giebt es für
Herrn Erdmann nicht; denn Alles ist Vorstellung. Ueberzeugen wir
uns davon an der Hand seiner eignen Aussagen! Wir lesen auf S.
187 des ersten Bandes: „Als eine
Beziehung zwischen Vorgestelltem setzt das Urteil mindestens zwei
Beziehungspunkte voraus, zwischen denen sie stattfindet. Als
Aussage über Vorgestelltes fordert
es, dass der eine dieser Beziehungspunkte als der Gegenstand, von
dem ausgesagt wird, das Subjekt …, der zweite als der Gegenstand,
der ausgesagt wird, das Prädikat … bestimmt werde“. Wir sehen
hier zunächst, dass sowohl das Subject, von dem ausgesagt wird,
als auch das Prädicat als Gegenstand oder Vorgestelltes
bezeichnet wird. Statt „der Gegenstand“ hätte hier wohl „das
Vorgestellte“ gesagt werden können; wir lesen nämlich (I, S. 81):
„Denn die Gegenstände sind Vorgestelltes.“ Aber auch umgekehrt
soll alles Vorgestellte Gegenstand sein. Auf S. 38 heisst
es: „Seinem Ursprunge nach zerfällt
das Vorgestellte einesteils in Gegenstände der Sinneswahrnehmung
und des Selbstbewusstseins, andererseits in ursprüngliche und
abgeleitete.“ Was aus der
Sinneswahrnehmung und aus dem Selbstbewusstsein entspringt, ist
doch wohl seelischer Natur. Die Gegenstände, das Vorgestellte und
damit auch Subject und Prädicat werden hierdurch der Psychologie
zugewiesen. Das wird durch folgende Stelle (I, S. 147 u. 148)
bestätigt: „Es ist das Vorgestellte
oder die Vorstellung überhaupt. Denn beide sind ein und dasselbe:
das Vorgestellte ist Vorstellung, die Vorstellung
Vorgestelltes.“ Das Wort
„Vorstellung“ wird ja nun meist im psychologischen Sinne
genommen; dass dies auch der Brauch des Herrn Erdmann ist, sehen
wir aus den Stellen: „Bewusstsein
ist demnach das Allgemeine zu Fühlen, Vorstellen, Wollen“ (S. 35)
und „Das Vorstellen setzt sich
zusammen aus den Vorstellungen . . . und den
Vorstellungsverläufen“ (S. 36). Danach dürfen wir uns nicht wundern, dass ein
Gegenstand auf psychologischem Wege entsteht: „Sofern eine Perceptionsmasse … früheren Reizen
und den durch sie ausgelösten Erregungen Gleiches darbietet,
reproducirt sie die Gedächtnisresiduen, welche jenem Gleichen der
früheren Reize entstammen, und verschmilzt mit ihnen zu dem
Gegenstande der appercipirten Vorstellung“ (I, S.
42). Auf S. 43 wird dann
beispielsweise gezeigt, wie ohne Stahlplatte, Schwärze, Presse
und Papier auf rein psychologischem Wege ein Stahlstich der
sixtinischen Madonna von Raphaël zu Stande kommt. Nach dem
Seite XXI
Allen kann kein Zweifel sein, dass der Gegenstand, von dem
ausgesagt wird, das Subject eine Vorstellung im psychologischen
Sinne des Wortes nach Herrn Erdmanns Meinung sein soll, ebenso
wie das Prädicat, der Gegenstand, der ausgesagt wird. Wenn das
richtig wäre, so könnte von keinem Subjecte mit Wahrheit
ausgesagt werden, es sei grün; denn grüne Vorstellungen giebt es
nicht. Ich könnte auch von keinem Subjecte aussagen, es sei
unabhängig vom Vorgestelltwerden oder von mir, dem Vorstellenden,
ebensowenig, wie meine Entschlüsse von meinem Wollen und von mir,
dem Wollenden, unabhängig sind, sondern mit mir vernichtet
würden, wenn ich vernichtet würde. Eine eigentliche Objectivität
giebt es also für Herrn Erdmann nicht, wie auch daraus
hervorgeht, dass er das Vorgestellte oder die Vorstellung
überhaupt, den Gegenstand im allgemeinsten Sinne des Wortes als
höchste Gattung (γενιχώτατον, genus summum) hinstellt (S. 147).
Er ist also Idealist. Wenn die Idealisten folgerecht dächten, so
würden sie den Satz „Karl der Grosse besiegte die Sachsen“ weder
für wahr noch für falsch, sondern für Dichtung ausgeben, wie wir
gewohnt sind, etwa den Satz „Nessus trug die Deïanira über den
Fluss Euenus“ aufzufassen; denn auch der Satz „Nessus trug die
Deïanira nicht über den Fluss Euenus“ könnte nur wahr sein, wenn
der Name „Nessus“ einen Träger hätte. Von diesem Standpunkte
wären die Idealisten wohl nicht leicht zu vertreiben. Aber das
braucht man sich nicht gefallen zu lassen, dass sie den Sinn des
Satzes in der Weise fälschen, als ob ich von meiner Vorstellung
etwas aussagen wollte, wenn ich von Karl, dem Grossen spreche;
ich will doch einen von mir und meinem Vorstellen unabhängigen
Mann bezeichnen und von diesem etwas aussagen. Man kann den
Idealisten zugeben, dass die Erreichung dieser Absicht nicht
völlig sicher ist, dass ich vielleicht damit, ohne es zu wollen,
aus der Wahrheit in die Dichtung verfalle. Damit kann aber an dem
Sinne nichts geändert werden. Mit dem Satze „dieser Grashalm ist
grün“ sage ich nichts von meiner Vorstellung aus; ich bezeichne
keine meiner Vorstellungen mit den Worten „dieser Grashalm“, und
wenn ich es thäte, so wäre der Satz falsch. Da tritt nun eine
zweite Fälschung ein, dass nämlich meine Vorstellung des Grünen
ausgesagt werde von meiner Vorstellung dieses Grashalms. Ich
wiederhole: von meinen Vorstellungen ist in diesem Satze durchaus
nicht die Rede; man schiebt einen ganz andern Sinn unter.
Beiläufig bemerkt, verstehe ich gar nicht, wie überhaupt eine
Vorstellung von etwas ausgesagt werden könne. Ebenso wäre es eine
Fälschung, wenn man sagen wollte, in dem Satze „der Mond ist
unabhängig von mir und meinem Vorstellen“ werde meine Vorstellung
des Unabhängigseins von mir und meinem Vorstellen ausgesagt von
meiner Vorstellung des Mondes. Damit wäre ja die Objectivität im
eigentlichen Sinne des Wortes preisgegeben und etwas ganz anderes
an die Stelle geschoben. Es ist ja möglich, dass bei der
Urtheilsfällung solches Spiel
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der Vorstellungen vorkommt; aber das ist nicht der Sinn des
Satzes. Man wird auch wohl beobachten können, dass bei demselben
Satze und bei demselben Sinne des Satzes das Spiel der
Vorstellungen ganz verschieden sein kann. Und diese logisch
gleichgültige Begleiterscheinung nehmen unsere Logiker für den
eigentlichen Gegenstand ihrer Forschung. Wie begreiflich wehrt sich die Natur der Sache
gegen das Versinken in den Idealismus, und Herr Erdmann möchte
nicht zugeben, dass es für ihn keine eigentliche Objectivität
gebe; aber ebenso begreiflich ist die Vergeblichkeit dieses
Bemühens. Denn wenn alle Subjecte und alle Prädicate
Vorstellungen sind und wenn alles Denken nichts ist als Erzeugen,
Verbinden, Verändern von Vorstellungen, so ist nicht einzusehen,
wie jemals etwas Objectives erreicht werden könne. Ein Anzeichen
dieses vergeblichen Sträubens ist schon der Gebrauch der Wörter
„Vorgestelltes“ und „Gegenstand“, die zunächst etwas Objectives
im Gegensatz zur Vorstellung bezeichnen zu wollen scheinen, aber
auch nur scheinen; denn es zeigt sich, dass sie dasselbe
bedeuten. Wozu nun dieser Ueberfluss von Ausdrücken? Das ist
nicht schwer zu errathen. Man bemerke auch, dass von einem
Gegenstande der Vorstellung die Rede ist, obwohl der Gegenstand
selber Vorstellung sein soll. Das wäre also eine Vorstellung der
Vorstellung. Welche Beziehung von Vorstellungen soll hiermit
bezeichnet werden? So unklar dies auch ist, so verständlich ist
es doch auch, wie durch das Gegeneinanderarbeiten der Natur der
Sache und des Idealismus solche Strudel entstehen können. Wir
sehen hier überall den Gegenstand, von dem ich mir eine
Vorstellung mache, mit dieser Vorstellung verwechselt und dann
doch wieder die Verschiedenheit hervortreten. Diesen Widerstreit
erkennen wir auch in folgendem Satze: „Denn eine Vorstellung, deren Gegenstand
allgemein ist, ist deshalb als solche, als Bewusstseinsvorgang,
so wenig allgemein, wie eine Vorstellung selbst real ist, weil
ihr Gegenstand als real gesetzt ist, oder wie ein Gegenstand, den
wir als süss … empfinden, durch Vorstellungen gegeben ist, die
selbst süss … sind“ (I, S. 86). Hier
macht sich die wahre Sachlage mit Macht geltend. Fast könnte ich
dem beistimmen; aber bemerken wir, dass nach den Erdmann’schen
Grundsätzen der Gegenstand einer Vorstellung und der Gegenstand,
der durch Vorstellungen gegeben ist, selber Vorstellungen sind,
so sehen wir, dass alles Sperren umsonst ist. Ich bitte noch die
Worte „als solche“ im Gedächtnisse zu behalten, die ähnlich auch
auf S. 83 in folgender Stelle vorkommen: „Wo von einem Gegenstande die Wirklichkeit
ausgesagt wird, ist das sachliche Subjekt dieses Urteils nicht
der Gegenstand oder das Vorgestellte als solches, sondern
vielmehr das Transscendente, das
als die Seinsgrundlage dieses Vorgestellten vorausgesetzt wird,
in dem Vorgestellten sich darstellt. Das Transscendente soll
dabei nicht als das Uner-
Seite XXIII
kennbare … angenommen werden, sondern seine Transscendenz soll
nur in der Unabhängigkeit vom Vorgestelltwerden
bestehen.“ Wieder ein vergeblicher
Versuch, sich aus dem Sumpfe herauszuarbeiten! Nehmen wir die
Worte ernst, so ist gesagt, dass in diesem Falle das Subject
keine Vorstellung ist. Wenn solches aber möglich ist, so ist
nicht abzusehen, warum bei ändern Prädicaten, die besondere
Weisen der Wirksamkeit oder Wirklichkeit angeben, das sachliche
Subject durchaus eine Vorstellung sein müsse, z. B. in dem
Urtheile „die Erde ist magnetisch“. Und so kämen wir denn dahin,
dass nur in wenigen Urtheilen das sachliche Subject eine
Vorstellung wäre. Wenn aber einmal zugegeben ist, dass es weder
für das Subject, noch für das Prädicat wesentlich ist,
Vorstellung zu sein, so ist der ganzen psychologischen Logik der
Boden unter den Füssen weggezogen. Alle psychologischen
Betrachtungen, von denen unsere Logikbücher jetzt anschwellen,
erweisen sich dann als zwecklos. Aber wir dürfen wohl die Transscendenz bei
Herrn Erdmann gar nicht so ernst nehmen. Ich brauche ihn nur an
seinen Ausspruch (I, S. 148) zu erinnern: „Der höchsten Gattung
untersteht auch die metaphysische Grenze unseres Vorstellens, das
Transscendente“, und er versinkt; denn diese höchste Gattung
(γενιχώτατον, genus summum) ist ja nach ihm das Vorgestellte oder
die Vorstellung überhaupt. Oder sollte oben das Wort
„Transscendentes“ in einem andern Sinne gebraucht sein als hier?
In jedem Falle, sollte man denken, müsste das Transscendente der
höchsten Gattung unterstehen. Verweilen wir noch etwas bei dem Ausdrucke „als
solches“! Ich setze den Fall, jemand wolle mir einbilden, dass
alle Gegenstände nichts seien als Bilder auf der Netzhaut meines
Auges. Nun gut! ich antworte noch nichts. Nun behauptet er aber
weiter, der Thurm sei grösser als das Fenster, durch das ich ihn
zu sehen meine. Da würde ich denn doch sagen: entweder sind nicht
beide, der Thurm und das Fenster, Netzhautbilder in meinem Auge,
dann mag der Thurm grösser sein als das Fenster; oder der Thurm
und das Fenster sind, wie du sagst, Bilder auf meiner Netzhaut;
dann ist der Thurm nicht grösser, sondern kleiner als das
Fenster. Nun sucht er sich mit dem „als solches“ aus der
Verlegenheit zu ziehen und sagt: das Netzhautbild des Thurmes als
solches ist allerdings nicht grösser, als das des Fensters. Da
möchte ich denn doch fast aus der Haut fahren und rufe ihm zu:
nun dann ist das Netzhautbild des Thurmes überhaupt nicht grösser
als das des Fensters, und wenn der Thurm das Netzhautbild des
Thurmes und das Fenster das Netzhautbild des Fensters wäre, so
wäre eben der Thurm nicht grösser als das Fenster, und wenn deine
Logik dich anders lehrt, so taugt sie nichts. Dieses „als
solches“ ist eine vortreffliche Erfindung für unklare
Schriftsteller, die weder ja noch nein sagen wollen. Aber dieses
Schweben zwischen beiden
Seite XXIV
lasse ich mir nicht gefallen, sondern ich frage: wenn von einem
Gegenstande die Wirklichkeit ausgesagt wird, ist dann das
sachliche Subject des Urtheils die Vorstellung, ja oder nein?
Wenn nicht, so ist es wohl das Transscendente, das als
Seinsgrundlage dieser Vorstellung vorausgesetzt wird. Aber dies
Transscendente ist selber Vorgestelltes oder Vorstellung. So
werden wir weiter getrieben zu der Annahme, nicht das
vorgestellte Transscendente sei Subject des Urtheils, sondern das
Transscendente, das als Seinsgrundlage dieses vorgestellten
Transscendenten vorausgesetzt werde. So müssten wir immer
weitergehen; wie weit wir aber auch gingen, wir kämen so nie aus
dem Subjectiven heraus. Dasselbe Spiel könnten wir übrigens auch
beim Prädicate anfangen, und nicht nur beim Prädicate
wirklich, sondern ebensogut etwa bei
süss. Wir sagten dann zunächst: wenn von einem Gegenstande die
Wirklichkeit oder die Süssheit ausgesagt wird, so ist das
sachliche Prädicat nicht die vorgestellte Wirklichkeit oder
Süssheit, sondern das Transscendente, das als Grundlage dieses
Vorgestellten vorausgesetzt wird. Damit kämen wir aber nicht zur
Ruhe, sondern würden rastlos weitergetrieben. Was ist hieraus zu
lernen? Dass die psychologische Logik auf einem Holzwege ist,
wenn sie Subject und Prädicat der Urtheile als Vorstellungen im
Sinne der Psychologie auffasst, dass psychologische Betrachtungen
in der Logik ebensowenig angebracht sind, wie in der Astronomie
oder Geologie. Wenn wir überhaupt aus dem Subjectiven
herauskommen wollen, so müssen wir das Erkennen auffassen als
eine Thätigkeit, die das Erkannte nicht erzeugt, sondern das
schon Vorhandene ergreift. Das Bild des Ergreifens ist recht
geeignet, die Sache zu erläutern. Wenn ich einen Bleistift
ergreife, so geht dabei in meinem Leibe mancherlei vor:
Nervenerregungen, Veränderungen der Spannung und des Druckes von
Muskeln, Sehnen und Knochen, Veränderungen der Blutbewegung. Aber
die Gesammtheit dieser Vorgänge ist weder der Bleistift, noch
erzeugt sie ihn. Dieser besteht unabhängig von diesen Vorgängen.
Und es ist wesentlich für das Ergreifen, dass etwas da ist, was
ergriffen wird; die innern Veränderungen allein sind das
Ergreifen nicht. So besteht auch das, was wir geistig erfassen,
unabhängig von dieser Thätigkeit. von den Vorstellungen und deren
Veränderungen, die zu diesem Erfassen gehören oder es begleiten,
ist weder die Gesammtheit dieser Vorgänge, noch wird es durch sie
als Theil unseres seelischen Lebens erzeugt. Sehen wir nun noch, wie sich den
psychologischen Logikern feinere sachliche Unterschiede
verwischen. Bei Merkmal und Eigenschaft ist das schon erwähnt
worden. Hiermit hängt der von mir betonte Unterschied von
Gegenstand und Begriff zusammen, sowie der von Begriffen erster
und zweiter Stufe. Diese Unterschiede sind den psychologischen
Logikern natürlich unerkennbar; bei ihnen ist eben Alles
Vorstellung. Damit fehlt
Seite XXV
ihnen auch die richtige Auffassung der Urtheile, die wir im
Deutschen mit „es giebt“ aussprechen. Diese Existenz wird von
Herrn B. Erdmann (Logik I, S. 311) mit Wirklichkeit
zusammengeworfen, die, wie wir sahen, auch von Objectivität nicht
deutlich unterschieden wird. Von welchem Dinge behaupten wir denn
eigentlich, dass es wirklich sei, wenn wir sagen, es gebe
Quadratwurzeln aus Vier? Etwa von der Zwei oder von -2? aber weder die eine noch die andere wird
hier in irgend einer Weise genannt. Und wenn ich sagen wollte,
die Zahl Zwei wirke oder sei wirksam oder wirklich, so wäre das
falsch und ganz verschieden von dem, was ich mit dem Satze „es
giebt Quadratwurzeln aus Vier“ sagen will. Die hier vorliegende
Verwechselung ist beinahe die gröbste, die überhaupt möglich ist;
denn sie geschieht nicht mit Begriffen derselben Stufe, sondern
ein Begriff erster wird mit einem Begriffe zweiter Stufe
vermengt. Für die Stumpfheit der psychologischen Logik ist dies
bezeichnend. Wenn man allgemeiner einen etwas freieren Standpunkt
gewonnen haben wird, mag man sich wundern, dass ein solcher
Fehler von einem Logiker von Fach begangen werden konnte; aber
erst muss man freilich den Unterschied zwischen Begriffen erster
und zweiter Stufe erfasst haben, ehe man die Grösse dieses
Fehlers ermessen kann, und dazu wird die psychologische Logik
wohl unfähig sein. Was dabei am meisten im Wege steht, ist, dass
ihre Vertreter sich auf die psychologische Vertiefung Wunder was
zu Gute thun, die doch nichts ist als psychologische Verfälschung
der Logik. Und so kommen denn unsere dicken Logikbücher zu
Stande, aufgedunsen von ungesundem psychologischen Fette, das
alle feineren Formen verhüllt. So wird ein fruchtbares
Zusammenwirken von Mathematikern und Logikern unmöglich gemacht.
Während der Mathematiker Gegenstände, Begriffe und Beziehungen
definirt, belauscht der psychologische Logiker das Werden und den
Wandel der Vorstellungen, und im Grunde kann ihm das Definiren
des Mathematikers nur thöricht erscheinen, weil es das Wesen der
Vorstellung nicht wiedergiebt. Er schaut in seinen
psychologischen Guckkasten und sagt zum Mathematiker: ich sehe
von dem Allen nichts, was du da definirst. Und der kann nur
antworten: kein Wunder! denn wo du suchst, da ist es
nicht. Dies mag genügen, um meinen
logischen Standpunkt durch den Gegensatz in helleres Licht zu
setzen. Der Abstand von der psychologischen Logik scheint mir so
himmelweit, dass keine Aussicht ist, jetzt schon durch mein Buch
auf sie zu wirken. Es kommt mir vor, als müsste der von mir
gepflanzte Baum eine ungeheure Steinlast heben, um sich Raum und
Licht zu schaffen. Und doch möchte ich die Hoffnung nicht ganz
aufgeben, mein Buch möchte später dazu helfen, die psychologische
Logik umzustürzen. Dazu wird ihm einige Anerkennung bei den
Mathematikern wohl nicht fehlen dürfen, die jene nöthigen wird,
sich mit ihm abzufinden. Und ich glaube einigen Beistand von
dieser Seite erwarten zu können;
Seite XXVI
haben die Mathematiker doch im Grunde gegen die psychologischen
Logiker eine gemeinsame Sache zu führen. Sobald sich diese nur
erst herablassen werden, sich ernsthaft mit meinem Buche zu
beschäftigen, wenn auch nur, um es zu widerlegen, glaube ich
gewonnen zu haben. Denn der ganze Abschnitt II ist eigentlich
eine Probe auf meine logischen Ueberzeugungen. Es ist von
vornherein unwahrscheinlich, dass ein solcher Bau sich auf einem
unsichern, fehlerhaften Grunde aufführen lassen sollte. Jeder,
der andere Ueberzeugungen hat, kann ja versuchen, auf ihnen einen
ähnlichen Bau zu errichten, und er wird, glaube ich, inne werden,
dass es nicht geht, oder dass es wenigstens nicht so gut geht.
Und nur das würde ich als Widerlegung anerkennen können, wenn
jemand durch die That zeigte, dass auf andern Grundüberzeugungen
ein besseres, haltbareres Gebäude errichtet werden könnte, oder
wenn mir jemand nachwiese, dass meine Grundsätze zu offenbar
falschen Folgesätzen führten. Aber das wird Keinem gelingen. Und
so möge denn dies Buch, wenn auch spät, zu einer Erneuerung der
Logik beitragen. Jena im Juli
1893. G.
Frege.
1 Anzahl einer abzählbar unendlichen
Menge.
1 Man vergleiche die Einleitung und die
§ 90 und 91 meiner Grundlagen der Arithmetik, Breslau, Verlag von
Wilhelm Koebner, 1884.
1 Ich sage freilich auch: der Sinn des
rechts stehenden Zeichens ist verschieden von dem des links
stehenden; aber die Bedeutung ist dieselbe. Man vergleiche meinen
Aufsatz über Sinn und Bedeutung in der Zeitschrift f. Philos. u.
philos. Kritik, 100. Bd., S. 25.
1 Jena, Verlag von Hermann Pohle,
1891.
1 In dem Jahrb. über die Fortschritte
der Math. sucht man meine Grundlagen der Arithm. vergebens.
Forscher auf demselben Gebiete, die Herren Dedekind, Otto Stolz,
v. Helmholtz scheinen meine Arbeiten nicht zu kennen. Auch
Kronecker erwähnt sie in seinem Aufsatze über den Zahlbegriff
nicht.
1 Vergl. E. Heine, Die Elemente der
Functionslehre, in Crelle’s Journal, Bd. 74, S. 173: „Ich stelle
mich bei der Definition auf den rein formalen Standpunkt, indem
ich gewisse greifbare Zeichen Zahlen nenne, sodass die Existenz
dieser Zahlen also nicht in Frage steht“
1 Mathematiker, die sich ungerne in die
Irrgänge der Philosophie begeben, werden gebeten, hier das Lesen
des Vorworts abzubrechen.
2 In der Logik des Herrn B. Erdmann
finde ich keine Spur dieses wichtigen Unterschiedes.
1 Halle a. S., Max Niemeyer, 1892.