| Kant: AA X, Briefwechsel 1776 , Seite 198 | |||||||
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| 112. | |||||||
| 02 | An Marcus Herz. | ||||||
| 03 | 24. Nov. 1776. | ||||||
| 04 | Wohlgebohrner HE. Doctor | ||||||
| 05 | Werthester Freund | ||||||
| 06 | Ich bin sehr erfreut, durch HEn. Friedländer, von dem guten | ||||||
| 07 | fortgang Ihrer medicinischen Praxis Nachricht zu erhalten. Das ist | ||||||
| 08 | ein Feld, worinn, ausser dem Vortheil den es schafft, der Verstand | ||||||
| 09 | unaufhörlich Nahrung durch neue Einsichten empfängt, indem er in | ||||||
| 10 | mäßiger Beschäftigung erhalten wird und nicht durch den Gebrauch | ||||||
| 11 | abgenutzt wird, wie es unseren größten Analysten, einem Baumgarten, | ||||||
| 12 | Mendelssohn, Garve, denen ich von weitem folge, wiederfährt, | ||||||
| 13 | die, indem sie ihre Gehirnnerven in die zärtesten Fäden aufspinnen, | ||||||
| 14 | sich vor ieden Eindruk oder Anspannung derselben äußerst | ||||||
| 15 | empfindlich machen. Bey Ihnen mag dieses nur ein Spiel der | ||||||
| 16 | Gedanken zur Erholung, niemals aber eine mühsame Beschäftigung | ||||||
| 17 | werden. | ||||||
| 18 | Mit Vergnügen habe ich in Ihrer Schrift, von der Verschiedenheit | ||||||
| 19 | des Geschmaks, die Reinigkeit des Ausdruks, die Gefälligkeit der | ||||||
| 20 | Schreibart und die Feinheit der Bemerkungen wargenommen. Ich | ||||||
| 21 | bin ietzt nicht im Stande einiges besondere Urtheil, was mir im | ||||||
| 22 | Durchlesen beyfiel, hinzu zu fügen, weil das Buch mir, ich weiß nicht | ||||||
| 23 | von wem, abgeliehen worden. Eine Stelle in demselben liegt mir | ||||||
| 24 | noch im Sinne, über die ich Ihrer partheylichen Freundschaft gegen | ||||||
| 25 | mich einen Vorwurf machen muß. Der mir, in Parallele mit Lessing, | ||||||
| 26 | ertheilte Lobspruch beunruhigt mich. Denn in der That ich besitze | ||||||
| 27 | noch kein Verdienst, was desselben würdig wäre und es ist, als ob | ||||||
| 28 | ich den Spötter zur Seite sähe, mir solche Ansprüche beyzumessen und | ||||||
| 29 | daraus Gelegenheit zum boshaften Tadel zu ziehen. | ||||||
| 30 | In der That gebe ich die Hofnung zu einigem Verdienst, in | ||||||
| 31 | dem Felde darinn ich arbeite, nicht auf. Ich empfange von allen | ||||||
| 32 | Seiten vorwürfe, wegen der Unthatigkeit, darinn ich seit langer Zeit | ||||||
| 33 | zu seyn scheine und bin doch wirklich niemals systematischer und anhaltender | ||||||
| 34 | beschäftigt gewesen, als seit denen Iahren, da Sie mich | ||||||
| 35 | nicht gesehen haben. Die Materien, durch deren Ausfertigung ich | ||||||
| 36 | wohl hoffen könte einen vorübergehenden Beyfall zu erlangen, häufen | ||||||
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