| Kant: AA X, Briefwechsel 1776 , Seite 199 | |||||||
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| 01 | sich unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man | ||||||
| 02 | einiger fruchtbaren Principien habhaft geworden. Aber sie werden | ||||||
| 03 | ins gesammt durch einen Hauptgegenstand, wie durch einen Damm, | ||||||
| 04 | zurückgehalten, an welchem ich hoffe ein dauerhaftes Verdienst zu erwerben, | ||||||
| 05 | in dessen Besitz ich auch wirklich schon zu seyn glaube und | ||||||
| 06 | wozu nunmehro nicht so wohl nöthig ist, es auszudenken, sondern | ||||||
| 07 | nur auszufertigen. Nach Verrichtung dieser Arbeit, welche ich allererst | ||||||
| 08 | ietzt antrete, nachdem ich die letzte Hindernisse nur den vergangenen | ||||||
| 09 | Sommer überstiegen habe, mache ich mir ein freyes Feld, | ||||||
| 10 | dessen Bearbeitung vor mich nur Belustigung seyn wird. Es gehöret, | ||||||
| 11 | wenn ich sagen soll, Hartnäckigkeit dazu, einen Plan, wie dieser ist, | ||||||
| 12 | unverrückt zu befolgen und oft bin ich durch Schwierigkeiten angereitzt | ||||||
| 13 | worden, mich anderen angenehmeren Materien zu widmen, | ||||||
| 14 | von welcher Untreue aber mich von Zeit zu Zeit, theils die Überwindung | ||||||
| 15 | einiger Hindernisse, theils die Wichtigkeit des Geschäftes | ||||||
| 16 | selbst zurük gezogen haben. Sie wissen: daß das Feld der, von allen | ||||||
| 17 | empirischen Principien unabhängig urtheilenden, d. i. reinen Vernunft | ||||||
| 18 | müsse übersehen werden können, weil es in uns selbst a priori liegt | ||||||
| 19 | und keine Eröfnungen von der Erfahrung erwarten darf. Um nun | ||||||
| 20 | den ganzen Umfang desselben, die Abtheilungen, die Grenzen, den | ||||||
| 21 | ganzen Inhalt desselben nach sicheren principien zu verzeichnen und | ||||||
| 22 | die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen | ||||||
| 23 | könne, ob man auf dem Boden der Vernunft, oder der Vernünfteley | ||||||
| 24 | sich befinde, dazu gehören: eine Critik, eine Disciplin, ein Canon | ||||||
| 25 | und eine Architektonik der reinen Vernunft, mithin eine förmliche | ||||||
| 26 | Wissenschaft, zu der man von denenienigen, die schon vorhanden sind, | ||||||
| 27 | nichts brauchen kan und die zu ihrer Grundlegung sogar ganz eigener | ||||||
| 28 | technischer Ausdrücke bedarf. Mit dieser Arbeit denke ich vor Ostern | ||||||
| 29 | nicht fertig zu werden, sondern dazu einen Theil des nächsten Sommers | ||||||
| 30 | zu verwenden, so viel meine unaufhörlich unterbrochene Gesundheit | ||||||
| 31 | mir zu arbeiten vergönnen wird; doch bitte ich über dieses Vorhaben | ||||||
| 32 | keine Erwartungen zu erregen, welche bisweilen beschwerlich und oft | ||||||
| 33 | nachtheilig zu seyn pflegen. | ||||||
| 34 | Und nun lieber Freund bitte ich meine Saumseeligkeit in Zuschriften | ||||||
| 35 | nicht zu erwiedern,sondern mich [mich] mit Nachrichten, vornemlich | ||||||
| 36 | literairischen, aus Ihrer Gegend bisweilen zu beehren, HEn Mendelssohn | ||||||
| 37 | von mir die ergebenste Empfehlung zu machen, imgleichen | ||||||
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