| Kant: Briefwechsel, Brief 112, An Marcus Herz. | |||||||
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| An Marcus Herz. | |||||||
| 24. Nov. 1776. | |||||||
| Wohlgebohrner HE. Doctor | |||||||
| Werthester Freund | |||||||
| Ich bin sehr erfreut, durch HEn. Friedländer, von dem guten | |||||||
| fortgang Ihrer medicinischen Praxis Nachricht zu erhalten. Das ist | |||||||
| ein Feld, worinn, ausser dem Vortheil den es schafft, der Verstand | |||||||
| unaufhörlich Nahrung durch neue Einsichten empfängt, indem er in | |||||||
| mäßiger Beschäftigung erhalten wird und nicht durch den Gebrauch | |||||||
| abgenutzt wird, wie es unseren größten Analysten, einem Baumgarten, | |||||||
| Mendelssohn, Garve, denen ich von weitem folge, wiederfährt, | |||||||
| die, indem sie ihre Gehirnnerven in die zärtesten Fäden aufspinnen, | |||||||
| sich vor ieden Eindruk oder Anspannung derselben äußerst | |||||||
| empfindlich machen. Bey Ihnen mag dieses nur ein Spiel der | |||||||
| Gedanken zur Erholung, niemals aber eine mühsame Beschäftigung | |||||||
| werden. | |||||||
| Mit Vergnügen habe ich in Ihrer Schrift, von der Verschiedenheit | |||||||
| des Geschmaks, die Reinigkeit des Ausdruks, die Gefälligkeit der | |||||||
| Schreibart und die Feinheit der Bemerkungen wargenommen. Ich | |||||||
| bin ietzt nicht im Stande einiges besondere Urtheil, was mir im | |||||||
| Durchlesen beyfiel, hinzu zu fügen, weil das Buch mir, ich weiß nicht | |||||||
| von wem, abgeliehen worden. Eine Stelle in demselben liegt mir | |||||||
| noch im Sinne, über die ich Ihrer partheylichen Freundschaft gegen | |||||||
| mich einen Vorwurf machen muß. Der mir, in Parallele mit Lessing, | |||||||
| ertheilte Lobspruch beunruhigt mich. Denn in der That ich besitze | |||||||
| noch kein Verdienst, was desselben würdig wäre und es ist, als ob | |||||||
| ich den Spötter zur Seite sähe, mir solche Ansprüche beyzumessen und | |||||||
| daraus Gelegenheit zum boshaften Tadel zu ziehen. | |||||||
| In der That gebe ich die Hofnung zu einigem Verdienst, in | |||||||
| dem Felde darinn ich arbeite, nicht auf. Ich empfange von allen | |||||||
| Seiten vorwürfe, wegen der Unthatigkeit, darinn ich seit langer Zeit | |||||||
| zu seyn scheine und bin doch wirklich niemals systematischer und anhaltender | |||||||
| beschäftigt gewesen, als seit denen Iahren, da Sie mich | |||||||
| nicht gesehen haben. Die Materien, durch deren Ausfertigung ich | |||||||
| wohl hoffen könte einen vorübergehenden Beyfall zu erlangen, häufen | |||||||
| sich unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man | |||||||
| einiger fruchtbaren Principien habhaft geworden. Aber sie werden | |||||||
| ins gesammt durch einen Hauptgegenstand, wie durch einen Damm, | |||||||
| zurückgehalten, an welchem ich hoffe ein dauerhaftes Verdienst zu erwerben, | |||||||
| in dessen Besitz ich auch wirklich schon zu seyn glaube und | |||||||
| wozu nunmehro nicht so wohl nöthig ist, es auszudenken, sondern | |||||||
| nur auszufertigen. Nach Verrichtung dieser Arbeit, welche ich allererst | |||||||
| ietzt antrete, nachdem ich die letzte Hindernisse nur den vergangenen | |||||||
| Sommer überstiegen habe, mache ich mir ein freyes Feld, | |||||||
| dessen Bearbeitung vor mich nur Belustigung seyn wird. Es gehöret, | |||||||
| wenn ich sagen soll, Hartnäckigkeit dazu, einen Plan, wie dieser ist, | |||||||
| unverrückt zu befolgen und oft bin ich durch Schwierigkeiten angereitzt | |||||||
| worden, mich anderen angenehmeren Materien zu widmen, | |||||||
| von welcher Untreue aber mich von Zeit zu Zeit, theils die Überwindung | |||||||
| einiger Hindernisse, theils die Wichtigkeit des Geschäftes | |||||||
| selbst zurük gezogen haben. Sie wissen: daß das Feld der, von allen | |||||||
| empirischen Principien unabhängig urtheilenden, d. i. reinen Vernunft | |||||||
| müsse übersehen werden können, weil es in uns selbst a priori liegt | |||||||
| und keine Eröfnungen von der Erfahrung erwarten darf. Um nun | |||||||
| den ganzen Umfang desselben, die Abtheilungen, die Grenzen, den | |||||||
| ganzen Inhalt desselben nach sicheren principien zu verzeichnen und | |||||||
| die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen | |||||||
| könne, ob man auf dem Boden der Vernunft, oder der Vernünfteley | |||||||
| sich befinde, dazu gehören: eine Critik, eine Disciplin, ein Canon | |||||||
| und eine Architektonik der reinen Vernunft, mithin eine förmliche | |||||||
| Wissenschaft, zu der man von denenienigen, die schon vorhanden sind, | |||||||
| nichts brauchen kan und die zu ihrer Grundlegung sogar ganz eigener | |||||||
| technischer Ausdrücke bedarf. Mit dieser Arbeit denke ich vor Ostern | |||||||
| nicht fertig zu werden, sondern dazu einen Theil des nächsten Sommers | |||||||
| zu verwenden, so viel meine unaufhörlich unterbrochene Gesundheit | |||||||
| mir zu arbeiten vergönnen wird; doch bitte ich über dieses Vorhaben | |||||||
| keine Erwartungen zu erregen, welche bisweilen beschwerlich und oft | |||||||
| nachtheilig zu seyn pflegen. | |||||||
| Und nun lieber Freund bitte ich meine Saumseeligkeit in Zuschriften | |||||||
| nicht zu erwiedern,sondern mich [mich] mit Nachrichten, vornemlich | |||||||
| literairischen, aus Ihrer Gegend bisweilen zu beehren, HEn Mendelssohn | |||||||
| von mir die ergebenste Empfehlung zu machen, imgleichen | |||||||
| gelegentlich HEn Engel u. Lambert auch HEn Bode der mich durch | |||||||
| D. Reccard grüssen lassen und übrigens in bestandiger Freundschaft | |||||||
| zu erhalten | |||||||
| Ihren ergebensten Diener | |||||||
| und Freund | |||||||
| Koenigsberg | I Kant | ||||||
| d 24 Nov. 1776. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 198 ] [ Brief 111 ] [ Brief 113 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||