| Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 377 | |||||||
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| 01 | da aus die Pflichten zu bestimmen: so finden freilich keine metaphysische | ||||||
| 02 | Anfangsgründe der Tugendlehre statt - denn Gefühl, wodurch | ||||||
| 03 | es auch immer erregt werden mag, ist jederzeit physisch. - Aber die | ||||||
| 04 | Tugendlehre wird alsdann auch in ihrer Quelle, einerlei ob in Schulen, | ||||||
| 05 | oder Hörsälen u. s. w., verderbt. Denn es ist nicht gleichviel, durch welche | ||||||
| 06 | Triebfedern als Mittel man zu einer guten Absicht (der Befolgung aller | ||||||
| 07 | Pflicht) hingeleitet werde. - - Es mag also den orakel= oder auch | ||||||
| 08 | geniemäßig über Pflichtenlehre absprechenden vermeinten Weisheitslehrern | ||||||
| 09 | Metaphysik noch so sehr anekeln: so ist es doch für die, welche | ||||||
| 10 | sich dazu aufwerfen, unerlaßliche Pflicht, selbst in der Tugendlehre zu jener | ||||||
| 11 | ihren Grundsätzen zurückzugehen und auf ihren Bänken vorerst selbst die | ||||||
| 12 | Schule zu machen. | ||||||
| 13 | Man muß sich hiebei billig wundern: wie es nach allen bisherigen | ||||||
| 14 | Läuterungen des Pflichtprincips, so fern es aus reiner Vernunft abgeleitet | ||||||
| 15 | wird, noch möglich war, es wiederum auf Glückseligkeitslehre | ||||||
| 16 | zurück zu führen: doch so, daß eine gewisse moralische Glückseligkeit, die | ||||||
| 17 | nicht auf empirischen Ursachen beruhte, zu dem Ende angedacht worden, | ||||||
| 18 | welche ein sich selbst widersprechendes Unding ist. - Der denkende Mensch | ||||||
| 19 | nämlich, wenn er über die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine oft | ||||||
| 20 | sauere Pflicht gethan zu haben sich bewußt ist, findet sich in einem Zustande | ||||||
| 21 | der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit | ||||||
| 22 | nennen kann, in welchem die Tugend ihr eigener Lohn ist. - Nun sagt | ||||||
| 23 | der Eudämonist: diese Wonne, diese Glückseligkeit ist der eigentliche | ||||||
| 24 | Bewegungsgrund, warum er tugendhaft handelt. Nicht der Begriff der | ||||||
| 25 | Pflicht bestimme unmittelbar seinen Willen, sondern nur vermittelst | ||||||
| 26 | der im Prospect gesehnen Glückseligkeit werde er bewogen seine Pflicht zu | ||||||
| 27 | thun. - Nun ist aber klar, daß, weil er sich diesen Tugendlohn nur von | ||||||
| 28 | dem Bewußtsein seine Pflicht gethan zu haben versprechen kann, das letztgenannte | ||||||
| 29 | doch vorangehen müsse; d. i. er muß sich verbunden finden seine | ||||||
| 30 | Pflicht zu thun, ehe er noch und ohne daß er daran denkt, daß Glückseligkeit | ||||||
| 31 | die Folge der Pflichtbeobachtung sein werde. Er dreht sich also mit | ||||||
| 32 | seiner Ätiologie im Cirkel herum. Er kann nämlich nur hoffen glücklich | ||||||
| 33 | (oder innerlich selig) zu sein, wenn er sich seiner Pflichtbeobachtung | ||||||
| 34 | bewußt ist: er kann aber zur Beobachtung seiner Pflicht nur bewogen | ||||||
| 35 | werden, wenn er voraussieht, daß er sich dadurch glücklich machen werde. | ||||||
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