Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 378 |
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| 01 | - Aber es ist in dieser Vernünftelei auch ein Widerspruch. Denn einerseits | ||||||
| 02 | soll er seine Pflicht beobachten, ohne erst zu fragen, welche Wirkung | ||||||
| 03 | dieses auf seine Glückseligkeit haben werde, mithin aus einem moralischen | ||||||
| 04 | Grunde: andrerseits aber kann er doch nur etwas für seine Pflicht anerkennen, | ||||||
| 05 | wenn er auf Glückseligkeit rechnen kann, die ihm dadurch erwachsen | ||||||
| 06 | wird, mithin nach pathologischem Princip, welches gerade das Gegentheil | ||||||
| 07 | des vorigen ist. | ||||||
| 08 | Ich habe an einem anderen Orte (der berlinischen Monatsschrift) | ||||||
| 09 | den Unterschied der Lust, welche pathologisch ist, von der moralischen, | ||||||
| 10 | wie ich glaube, auf die einfachste Ausdrücke zurück geführt. Die Lust nämlich, | ||||||
| 11 | welche vor der Befolgung des Gesetzes hergehen muß, damit diesem | ||||||
| 12 | gemäß gehandelt werde, ist pathologisch, und das Verhalten folgt der | ||||||
| 13 | Naturordnung; diejenige aber, vor welcher das Gesetz hergehen muß, | ||||||
| 14 | damit sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung. - - Wenn | ||||||
| 15 | dieser Unterschied nicht beobachtet wird: wenn Eudämonie (das Glückseligkeitsprincip) | ||||||
| 16 | statt der Eleutheronomie (des Freiheitsprincips der | ||||||
| 17 | inneren Gesetzgebung) zum Grundsatze aufgestellt wird, so ist die Folge | ||||||
| 18 | davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral. | ||||||
| 19 | Die Ursache dieser Irrungen ist keine andere als folgende. Der | ||||||
| 20 | kategorische Imperativ, aus dem diese Gesetze dictatorisch hervorgehen, | ||||||
| 21 | will denen, die blos an physiologische Erklärungen gewohnt sind, nicht in | ||||||
| 22 | den Kopf; unerachtet sie sich doch durch ihn unwiderstehlich gedrungen | ||||||
| 23 | fühlen. Sich aber das nicht erklären zu können, was über jenen Kreis | ||||||
| 24 | gänzlich hinaus liegt (die Freiheit der Willkür), so seelenerhebend auch | ||||||
| 25 | eben dieser Vorzug des Menschen ist, einer solchen Idee fähig zu sein, | ||||||
| 26 | wird durch die stolzen Ansprüche der speculativen Vernunft, die sonst ihr | ||||||
| 27 | Vermögen in andern Feldern so stark fühlt, gleichsam zum allgemeinen | ||||||
| 28 | Aufgebot der für die Allgewalt der theoretischen Vernunft Verbündeten | ||||||
| 29 | gereizt, sich jener Idee zu widersetzen und so den moralischen Freiheitsbegriff | ||||||
| 30 | jetzt und vielleicht noch lange, obzwar am Ende doch vergeblich, | ||||||
| 31 | anzufechten und wo möglich verdächtig zu machen. | ||||||
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