Kant: Briefwechsel, Brief 600, Von Iohann Friedrich Flatt. |
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| Von Iohann Friedrich Flatt. | |||||||
| 27. Oct. 1793. | |||||||
| Wohlgebohrner, Hochgelehrter, | |||||||
| Hochzuverehrender Herr Professor, | |||||||
| Die wichtigen Aufklärungen, die ich Euer Wohlgebohren tiefsinnigen | |||||||
| Wercken zu dancken habe, machen mir's zur Pflicht, Ihnen | |||||||
| meinen reinsten lebhaftesten Danck schriftlich zu bezeugen. Und das | |||||||
| Bedürfnis, das ich fühle, über ein paar für mich sehr interessante Puncte | |||||||
| eine solche Aufklärung zu erhalten, als ich nur von Euer Wohlgebohren | |||||||
| erwarten kan, verbunden mit einem Zutrauen zu Ihrer Güte, das | |||||||
| nicht grösser seyn könnte, veranlaßt mich, die ganz gehorsamste Bitte | |||||||
| zu wagen, daß Sie, wenn es anders Ihre wichtigen Geschäfte erlauben, | |||||||
| die Gewogenheit haben mögen, mich über folgende Fragen, mit denen | |||||||
| ich noch immer nicht ganz im Reinen bin, mit ein paar Worten zu | |||||||
| belehren. | |||||||
| I. Welcher Grundsaz (der Causalität) muß als Obersaz des Schlusses | |||||||
| angenommen werden, dessen Schlusssaz dieser ist: "Eine vollkommene | |||||||
| Harmonie der Sittlichkeit und Glückseeligkeit sezt eine Ursache voraus"? | |||||||
| Ueber diese Frage, die für mich um so wichtiger ist, je höher ich seit | |||||||
| einiger Zeit den moralischen Ueberzeugungsgrund vom Daseyn Gottes | |||||||
| schäze, habe ich von einigen scharfsinnigen Verehrern Ihrer Philosophie, | |||||||
| die ich darüber befragte noch immer keinen ganz befriedigenden Aufschluss | |||||||
| erhalten. Und bey allen Versuchen, die ich selbst schon in Beziehung | |||||||
| auf dieselbe gemacht habe, bleibt mir immer noch etwas zu | |||||||
| wünschen übrig. Ich sehe auf der einen Seite klar ein, dass man das | |||||||
| Leibnizisch=Wolfische Princip des zureichenden Grundes nicht ohne Einschränckung | |||||||
| auf das Intelligible anwenden kan, ohne wenigstens in den, | |||||||
| von Herrn Schmid aufgestellten intelligiblen Fatalismus, den ich mit | |||||||
| der Moralität nicht zu vereinigen weis, zu verfallen. Auf der andern | |||||||
| Seite aber ist es mir ebenso klar, dass in obigem Schluss ein Obersaz | |||||||
| vorkommen muss, dessen Prädicat der Begriff: "Eine Ursache haben" , | |||||||
| und dessen Subject ein Begriff ist, unter welchen der Begriff von einer | |||||||
| vollkommenen Harmonie der Sittlichkeit und Glückseeligkeit subsumirt | |||||||
| werden kan. Wie aber nun das Subject dieses Sazes bestimmt werden | |||||||
| müsse? Dies ist eine Aufgabe, deren Auflösung mir noch nicht ganz | |||||||
| gelungen ist, ob ich mich gleich vor der Hand bey einer, meine speculative | |||||||
| Vernunft nicht völlig befriedigenden, Auflösung beruhige. | |||||||
| II. Wie muss der (reine) Begriff von Ursache, inwiefern er auf | |||||||
| (absolut-) freye Wesen als solche angewendet wird, gedacht werden? | |||||||
| Oder welches ist das Merckmahl, welches der Begriff von einer freyen | |||||||
| Ursache mit dem Begriffe von Natur-Ursache gemein hat, und durch | |||||||
| welches also der Gattungsbegriff, unter welchem jene beide als Arten | |||||||
| enthalten sind, gedacht werden muss? | |||||||
| Die Haupt=Schwierigkeit, die ich bey dieser Frage finde, und die ich | |||||||
| durch alle bisher gemachten Versuche n[och] nicht zu lösen wusste, ist diese: | |||||||
| Ist das Merckmahl der Nothwendigkeit ein wesentliches Merckmahl | |||||||
| des Gattungsbegriffs von Ursache, und folglich auch in dem Begriff | |||||||
| von einer freyen Ursache enthalten; so scheint die absolute Freyheit, | |||||||
| nicht blos etwas unbegreifliches, sondern etwas Widersprechendes zu | |||||||
| seyn. Schneide ich aber das Merckmahl der Nothwendigkeit von dem | |||||||
| Gattungsbegriff von Ursache weg, um die Freyheit zu retten; so bleibt | |||||||
| mir nichts positives dabey zu dencken übrig: Auch weis ich dann jenen | |||||||
| Begriff nicht mehr von der Form der hypothetischen Urtheile abzuleiten. | |||||||
| III. Wie muss die moralische Besserung, inwiefern sie auf die Freyheit | |||||||
| bezogen wird, gedacht werden? | |||||||
| Nehme ich eine Veränderung in den Selbstbestimmungen des Subjects | |||||||
| der absoluten Freyheit an; so muss ich es den Zeitbedingungen | |||||||
| unterwerffen, und habe also alle Beweise der Critik für die Idealität | |||||||
| der Zeit gegen mich. Seze ich aber die Nicht-Veränderlichkeit des Subjekts | |||||||
| der Freyheit voraus; so muss ich 1) Einen unveränderlichen Freyheits-Actus, | |||||||
| in welchem contradictorisch-entgegengesezte Maximen gegründet | |||||||
| sind, und 2) einen Prädeterminismus durch Freyheit (der alle | |||||||
| Besserungsmittel zwecklos zu machen scheint, und insofern practisch | |||||||
| nachtheilig seyn möchte, ob er gleich mit der Imputation sehr gut bestehen | |||||||
| kan) annehmen. | |||||||
| IV. Widerspricht der Saz: "Gott kan, seiner moralischen Vollkommenheit | |||||||
| unbeschadet, den gebesserten Menschen, im Ganzen ihres Daseyns, | |||||||
| einen höheren Grad von Glückseeligkeit schenken als derjenige ist, | |||||||
| der (an sich betrachtet) ihrer Würdigkeit entspricht", den Grundsäzen | |||||||
| der Moraltheologie? Oder kan man nicht mit jenem Satz, die, von | |||||||
| der practischen Vernunft postulirte, genaue Proportion der Sittlichkeit | |||||||
| und Glückseeligkeit vereinigen, und diese blos in folgendem Sinn | |||||||
| annehmen. " 1 . die Glückseeligkeit des Subjects A verhält sich zur | |||||||
| Glückseeligkeit des Subjects B, genau wie die Sittlichkeit des ersteren | |||||||
| zur Sittlichkeit des lezteren; und 2. die Glückseeligkeit des A verhält | |||||||
| sich zur Sittlichkeit des A, wie die Glückseeligkeit des B zur Sittlichkeit | |||||||
| des B." | |||||||
| Ich hoffe auf jeden Fall von Euer Wohlgebohren Verzeihung | |||||||
| der Freyheit zu erhalten, die ich mir nahm. Sollten Sie sich entschließen | |||||||
| können, der Beantwortung meiner Fragen einige Augenblicke | |||||||
| von der für Sie so kostbaren Zeit zu widmen; so würde ich diesen | |||||||
| ganz unverdienten Beweis Ihrer Gewogenheit mit dem wärmsten Dancke | |||||||
| verehren. Daß ich mir vor einiger Zeit die Freyheit genommen habe, | |||||||
| einigen Ihrer Behauptungen zu widersprechen; dies bedarf, wie ich | |||||||
| glaube, keiner Entschuldigung, am wenigsten bey einem solchen Mann, | |||||||
| als ich in Ihnen verehre. Sollte ich aber durch die Art, wie ich | |||||||
| schrieb, unabsichtlich die Ihnen schuldige Hochachtung verlezt haben; | |||||||
| so würde ich allerdings Ursache haben, um Verzeihung zu bitten. | |||||||
| Sehr kränkend ist es für mich daß, wie ich erst kürzlich hörte, einige | |||||||
| mich für den Verfasser der schlechten Broschüre: "Critik der schönen | |||||||
| Vernunft von einem Neger" halten. Alle, die mich genau kennen, | |||||||
| wissen, daß ich zu viele Achtung für mich selbst habe, um eine solche | |||||||
| Broschüre zu schreiben. | |||||||
| Wäre mir Königsberg um 50. Meilen näher, oder erlaubte es | |||||||
| mir meine gegenwärtige Lage, eine so weite Reise zu machen; so | |||||||
| würde ich mir das Vergnügen nicht versagen können, Ihnen die tiefe | |||||||
| Verehrung persönlich zu bezeugen, mit welcher ich die Ehre habe zu | |||||||
| beharren | |||||||
| Euer Wohlgebohren | |||||||
| ganz gehorsamster Diener | |||||||
| Tübingen | D. Iohann Friedrich | ||||||
| d. 27. Oct. | Flatt, Professor | ||||||
| 1793. | der Theologie | ||||||
| in Tübingen. | |||||||
| N. S. | |||||||
| Mit Fragen über Ihre neueste, auch für mich sehr lehrreiche | |||||||
| Schrift will ich Sie nicht belästigen. Nur das erlauben Sie mir zu | |||||||
| sagen, daß ich, so sehr ich auch in diesem Werke Ihren Tiefsinn bewundere, | |||||||
| von dem Gegentheil einiger darinn aufgestellten Behauptungen, | |||||||
| zum Theil durch Gründe, die auf meinem eigenen Bewußtseyn beruhen, | |||||||
| und insofern völlig unwiderlegbar sind, überzeugt bin, und da | |||||||
| ich es noch immer sehr vernünftig, und für meine Moralität sehr | |||||||
| zuträglich finde, die Göttliche Auctorität Christi anzuerkennen, und | |||||||
| folglich die Frage, ob es eine Göttliche Offenbarung (im engeren Sinn | |||||||
| des Worts) gebe, nicht unentschieden zu lassen. Verzeihen Sie, verehrungswürdigster | |||||||
| Mann, diese Äußerung meiner Ehrlichkeit und | |||||||
| Wahrheitsliebe. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 461 ] [ Brief 599 ] [ Brief 601 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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