Kant: AA XI, Briefwechsel 1793 , Seite 461

     
           
 

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    600.      
  02 Von Iohann Friedrich Flatt.      
           
  03 27. Oct. 1793.      
           
  04 Wohlgebohrner, Hochgelehrter,      
  05 Hochzuverehrender Herr Professor,      
           
  06 Die wichtigen Aufklärungen, die ich Euer Wohlgebohren tiefsinnigen      
  07 Wercken zu dancken habe, machen mir's zur Pflicht, Ihnen      
  08 meinen reinsten lebhaftesten Danck schriftlich zu bezeugen. Und das      
  09 Bedürfnis, das ich fühle, über ein paar für mich sehr interessante Puncte      
  10 eine solche Aufklärung zu erhalten, als ich nur von Euer Wohlgebohren      
  11 erwarten kan, verbunden mit einem Zutrauen zu Ihrer Güte, das      
  12 nicht grösser seyn könnte, veranlaßt mich, die ganz gehorsamste Bitte      
  13 zu wagen, daß Sie, wenn es anders Ihre wichtigen Geschäfte erlauben,      
  14 die Gewogenheit haben mögen, mich über folgende Fragen, mit denen      
  15 ich noch immer nicht ganz im Reinen bin, mit ein paar Worten zu      
  16 belehren.      
           
  17 I. Welcher Grundsaz (der Causalität) muß als Obersaz des Schlusses      
  18 angenommen werden, dessen Schlusssaz dieser ist: "Eine vollkommene      
  19 Harmonie der Sittlichkeit und Glückseeligkeit sezt eine Ursache voraus"?      
  20 Ueber diese Frage, die für mich um so wichtiger ist, je höher ich seit      
  21 einiger Zeit den moralischen Ueberzeugungsgrund vom Daseyn Gottes      
  22 schäze, habe ich von einigen scharfsinnigen Verehrern Ihrer Philosophie,      
  23 die ich darüber befragte noch immer keinen ganz befriedigenden Aufschluss      
  24 erhalten. Und bey allen Versuchen, die ich selbst schon in Beziehung      
  25 auf dieselbe gemacht habe, bleibt mir immer noch etwas zu      
  26 wünschen übrig. Ich sehe auf der einen Seite klar ein, dass man das      
  27 Leibnizisch=Wolfische Princip des zureichenden Grundes nicht ohne Einschränckung      
  28 auf das Intelligible anwenden kan, ohne wenigstens in den,      
  29 von Herrn Schmid aufgestellten intelligiblen Fatalismus, den ich mit      
  30 der Moralität nicht zu vereinigen weis, zu verfallen. Auf der andern      
  31 Seite aber ist es mir ebenso klar, dass in obigem Schluss ein Obersaz      
  32 vorkommen muss, dessen Prädicat der Begriff: "Eine Ursache haben" ,      
  33 und dessen Subject ein Begriff ist, unter welchen der Begriff von einer      
  34 vollkommenen Harmonie der Sittlichkeit und Glückseeligkeit subsumirt      
  35 werden kan. Wie aber nun das Subject dieses Sazes bestimmt werden      
  36 müsse? Dies ist eine Aufgabe, deren Auflösung mir noch nicht ganz      
           
     

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