Kant: Briefwechsel, Brief 585, Von Iacob Sigismund Beck. |
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| Von Iacob Sigismund Beck. | |||||||
| Halle den 24ten August 1793. | |||||||
| Sehr Theurer Lehrer, | |||||||
| In meinem Auszuge aus Ihrer Critick der Urtheilskraft bin ich | |||||||
| bis zu der Dialectick der teleologischen Urtheilskraft gekommen. Eine | |||||||
| Folge von der sehr großen Deutlichkeit, mit der ich diese Materie einsehe, | |||||||
| und der sehr festen Ueberzeugung die ich davon habe, ist die | |||||||
| gewesen, daß ich lange Ihnen mit meinen Briefen nicht habe beschwerlich | |||||||
| seyn dürfen. Auch ist das Licht, welches das Studium dieser | |||||||
| Critick der Urtheilskraft auf die Transcendentalphilosophie überhaupt | |||||||
| und auf die Critick der practischen Vernunft für meine Augen zurückgeworfen | |||||||
| hat, beträchtlich. Erlauben Sie mir, Ihnen sagen zu dürfen, | |||||||
| daß meine Seele, noch nie einem Gelehrten sich so verbunden gefühlt | |||||||
| hat, als Ihnen, ehrwürdiger Mann. Ich habe seit der Zeit, da ich | |||||||
| Ihren mündlichen Vortrag anhörte, sehr viel Vertrauen zu Ihnen gehabt; | |||||||
| aber ich gestehe auch, daß bey den Schwierigkeiten die mich | |||||||
| lange gedruckt haben, dieses Vertrauen öfters zwischen dem zu Ihnen, | |||||||
| und dem, zu mir selbst gewankt hat. Mein ziemlicher Fortgang in | |||||||
| der Mathematick, und die so vielfach fehlgeschlagenen Versuche in der | |||||||
| Philosophie, mancher berühmten Männer, war mir nämlich ein Grund | |||||||
| nicht alle Zuversicht zu mir selbst aufzugeben. Von der andern Seite | |||||||
| aber mußte ich nothwendig denken, daß das Loos des Menschen das | |||||||
| betrübteste seyn müßte, wenn er nicht einmahl mit sich selbst fertig | |||||||
| werden könnte, und sich selbst, von dem, was er dächte, nicht völlige | |||||||
| Rechenschaft ablegen könnte. Ich habe daher Ihre Schriften immerfort | |||||||
| sorgfältig studirt, und ich darf es jetzt sagen, weil es wahr ist, | |||||||
| daß die dadurch erlangte innige Bekanntschaft mit denselben, mich mir | |||||||
| selbst bekannt gemacht hat. Was wohl einem vernünftigen Wesen, das | |||||||
| wünschenswürdigste Gut seyn muß, das hat mir Ihre Philosophie gewähret. | |||||||
| Denn ich bin durch sie aufmerksam gemacht und belehrt | |||||||
| worden, in Ansehung des vielbedeutenden Unterschiedes zwischen denken | |||||||
| und erkennen, zwischen dem: mit Begriffen spielen, und Begriffe haben | |||||||
| objective Gültigkeit, und was mehr, als alles ist, ich habe die die | |||||||
| Verknüpfung die wir im Sittengesetz denken, die man sich so gern als | |||||||
| analytisch vorstellen mag, um wahrscheinlich dadurch nicht allein sich | |||||||
| das Nachdenken zu erleichtern, sondern dem Willen auch einen, obwohl | |||||||
| der practischen Vernunft sehr heterogenen Sporn zu geben, als synthetisch | |||||||
| ansehen gelernt. Die eigentliche Ursache aber, warum so viele | |||||||
| sonst sehr berühmte Männer, ihren Beyfall der critischen Philosophie | |||||||
| immerfort versagen, liegt meiner Meynung nach wohl darin, daß sie | |||||||
| sich nicht aufmerksam wollen machen lassen, auf den mächtigen Unterschied | |||||||
| zwischen denken und erkennen. In ihrer Sprache sind alle | |||||||
| diese Ausdrücke entweder gleichgeltend, oder sie legen ihnen nach ihrer | |||||||
| Art einen Sinn unter, welches ihnen auch wohl immer, wenn der | |||||||
| Sprachgebrauch es leidet, freystehen mag, wenn dabey nur die Sache | |||||||
| selbst, die wichtigste für einen Mann, dem es um reeller Wahrheit, | |||||||
| und nicht um ein Gedankenspiel zu thun ist, verlohren gienge. Ich | |||||||
| habe auch gemerkt, daß auch viele von den Freunden der Critick, den | |||||||
| ganzen Gehalt einer Transcendentalphilosophie, und insbesondere einer | |||||||
| transcendentalen Logick nicht gut in Ueberlegung nehmen, indem sie | |||||||
| die allgemeine Logick von ihr, bloß durch den Ausdruck: sie abstrahire | |||||||
| von den Gegenständen, unterscheiden, welcher Begriff aber doch die | |||||||
| nähere Bestimmung, daß die allgemeine Logick eigentlich die objective | |||||||
| Gültigkeit der Vorstellungen bey Seite setze, und diese Untersuchung | |||||||
| der transcendentalen Logick überlasse, verlangt. | |||||||
| Seit einiger Zeit habe ich auch Ihre metaphysische Anfangsgründe | |||||||
| der Naturwissenschaft wieder durchzudenken angefangen. In der Phoronomie | |||||||
| und Dynamick habe ich keinen Anstoß genommen. Aber in der | |||||||
| Mechanick stoße ich an etwas, welches ich nicht mir wegzuräumen wei | |||||||
| und auf die folgende Theorie mir ein unangenehmes Dunkel wirft. | |||||||
| Es ist der Begriff der Quantität der Materie. Ihre Definition lautet: | |||||||
| (S. 107) Die Quantität der Materie ist die Menge des Beweglichen | |||||||
| in einem bestimmten Raum. Ich weiß eigentlich nicht, wie Sie dieses | |||||||
| Bewegliche verstehen, ob dynamisch oder mechanisch. Mechanisch kann | |||||||
| es nicht verstanden seyn, weil die Materie mechanisch betrachtet, bloß | |||||||
| als Maaß der Quantität der Materie (nach dem ersten Lehrsatz) gesetzt | |||||||
| wird, diese letzte demnach doch eben sowohl von der Materie, sofern | |||||||
| sie bewegende Kraft hat, verschieden seyn muß, als ein Winkel von dem | |||||||
| Cirkelbogen, der ihn mißt. Dynamisch kann ich diesen Begriff auch | |||||||
| nicht nehmen, weil die Quantität der Materie als unveränderlich | |||||||
| soll gedacht werden, wenn gleich die Ausdehnungskraft verschieden gesetzt | |||||||
| würde. In der nämlichen Definition sagen Sie: die Größe der | |||||||
| Bewegung ist diejenige, die durch die Quantität der bewegten | |||||||
| Materie und ihre Geschwindigkeit zugleich geschätzt wird, und in dem | |||||||
| gleich darauf folgenden Lehrsatz wird doch bewiesen, daß die Quantität | |||||||
| der Materie lediglich durch die Größe der Bewegung geschätzt werde. | |||||||
| Ich weiß recht wohl daß die ganze Ursache dieser Unverständlichkeit | |||||||
| in meinem Kopfe liege. Aber aller Unwille deshalb gegen mich | |||||||
| selbst, räumt sie mir nicht aus dem Wege. Ich bitte Sie, theurer | |||||||
| Lehrer, auf die inständigste Weise mich hierüber zu belehren. Ihnen | |||||||
| einige Beschwerde zu machen, ist mir sehr unangenehm; aber da ich | |||||||
| mir wirklich hierin nicht recht helfen kan, so muß ich meinen Wunsch | |||||||
| gestehen, daß Sie sich entschließen möchten, mir hierauf bald zu antworten. | |||||||
| Klügel hat in mathematischer Rücksicht mich manchmahl ausgeholfen. | |||||||
| Aber aus seinem Gespräche bin ich genöthigt zu schließen, | |||||||
| daß er über die Principien der reinen Naturwissenschaft, niemals gehörig | |||||||
| nachgedacht habe. | |||||||
| Der M. Rath der die Critick ins Lateinische zu übersetzen, sich | |||||||
| erboth, that dem Buchhändler Hartknoch den Antrag, Verleger von | |||||||
| dieser Arbeit zu werden. Vor etwa 5 Wochen schrieb ihm Hartknoch, | |||||||
| daß der Prof. Heydenreich in Leipzig ihm auch einen Mann für diese | |||||||
| Uebersetzung vorgeschlagen habe, und daß er, aus Achtung für das | |||||||
| Publicum genöthigt sey, eine vernünftige Wahl zu treffen. Er bath | |||||||
| ihn, ihm eine Probe von seiner Arbeit zu überschicken, wie dann darum | |||||||
| auch der andere Gelehrte darum ersucht werden sollte, und beyde Proben | |||||||
| sollten dann einem, beyden unbekannten, fähigen Richter zur Entscheidung | |||||||
| vorgelegt werden. Anfänglich war Rath hiezu entschlossen. | |||||||
| Ietzt aber weiß ich nicht, was ihn bedenklich macht den Vorschlag anzunehmen. | |||||||
| Mir thut dieses leid, weil ich nicht glaube, daß viele mit | |||||||
| dem reinen wissenschaftlichen Interesse Ihre Schriften studiren, so wie | |||||||
| mein Freund, und weil ich geneigt bin, zu zweifeln, daß jener mir | |||||||
| fremde Mann, auch so gut den Sinn der Critick treffen werde, als er. | |||||||
| Indessen kann ich nicht einsehen, daß Hartknoch fehle, und ich will, | |||||||
| so gut ich kan[n meinen] Freund zu dem Entschluß, auch seine Probe | |||||||
| einzuschicken, zu bewegen suchen. | |||||||
| Vor einiger Zeit las ich in Krusii Weg, zur Gewisheit und Zuverlässigkeit, | |||||||
| veran[laßt durch] Herrn Schmidts Lexicon und zu meinem | |||||||
| Verwundern habe ich (§260) die Unterscheidung der analytischen und | |||||||
| synthetischen Urtheile weit deutlicher darin gefunden, als in der von | |||||||
| Ihnen citirten Stelle des Locke. Denn ob er gleich, meiner Meynung | |||||||
| nach, keine Einsicht in das Princip der synthetischen Erkenntnisse a | |||||||
| priori, verräth, so enthält doch diese Stelle wenigstens so viel, da | |||||||
| ein nachdenkender Leser wohl aufmerksam auf ihre Wichtigkeit dadurch | |||||||
| gemacht werden könnte, indem Krusius gradezu diese Synthesis als | |||||||
| die Grundlage der Realität unserer Begriffe andeutet. | |||||||
| Sie haben auch die Güte gehabt, mir ein Exemplar Ihrer Religion | |||||||
| in den Grenzen der Vernunft überschicken zu lassen. Ich danke | |||||||
| Ihnen ergebenst dafür. Ich muß aber leider noch einige Zeit verfließen | |||||||
| lassen, ehe ich sie so ganz eigentlich zu studiren werde unternehmen | |||||||
| können. | |||||||
| Leben Sie wohl, mein Theurer Lehrer. Ich wünsche daß die | |||||||
| Vorsehung Sie uns noch lange, und gesund, erhalten wolle, und bin | |||||||
| mit der reinsten Achtung | |||||||
| der Ihrige | |||||||
| Beck. | |||||||
| Daß Herr Rath Reinhold einen Ruff nach Kiel erhalten habe, | |||||||
| wird er vieleicht Ihnen schon geschrieben haben. Er soll ihn auch, | |||||||
| wie man sagt, angenommen haben. | |||||||
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