Kant: Briefwechsel, Brief 586, Von Friedrich Bouterwek.

     
           
 

 

 

 

 

 
  Von Friedrich Bouterwek.      
           
  25. Aug. 1793.      
           
  Verehrungswürdiger Mann,      
  Wen die Natur nicht zum Erfinder      
  in einer Wissenschaft bestimte, aber mit Verstand und Beharrlichkeit      
  genug ausrüstete, um Alles, was über die größte Menschenangelegenheit      
  von Erfindern gesagt worden ist, zu verstehen, und zu prüfen, der      
  ist eigentlich zum Apostel des Evangeliums, an welches er glaubt, berufen.      
  So dachte ich wenigstens, als ich, zum erstenmale in meinem      
  Leben, den Versuch wagte, eine scientifische Darlegung der Wahrheit      
  zu Stande zu bringen. Müde des Temporisirens, wozu ich mich anfangs      
  nur mit harter Mühe bequemt hatte, wolte ich ohne die Miene      
  der Belehrung, die mich noch nicht kleidet, freimüthig mich zu der      
  Lehre bekennen, die doch am Ende die einzige bleiben wird, zu der      
  sich ein freier und alle luftigen Wahrscheinlichkeitsformeln und Argumentationsträume      
           
  verschmähender Geist bekennen kan. Dann wolte ich      
  auch (durch ein Buch, in der Kunstsprache verfaßt, mich gewissermaßen      
  legitimiren zur Herausgabe eines andern, das dieselben Wahrheiten,      
  verständlich für Iedermann, wer nur irgend über seinen animalischen      
  Lebenskreis sich zu erheben vermag, enthalten soll mit der      
  sorgfältigsten Vermeidung aller Kunstsprache. Eine leichte      
  Guirlande von Blumen der Phantasie soll dies Werkchen umgeben.      
  Systematische Vollständigkeit würde da ein Fehler seyn, wo man dem      
  Volke das Seine geben, nicht aber mit den Gelehrten in Reihe und      
  Glied treten will.      
           
  Kann dies kleine Buch, welches ich Ihnen hier darzubieten wage      
  und, damit ich mir diese Freude gewähre, 100 Meilen mit der Post      
  reisen lasse, Ihnen mehr als nicht misfallen, so wird es mich wenig      
  kümmern, wenn ich hier und dort mit einem zweideutigen Blicke mich      
  fragen lassen muß, wie Saul unter die Propheten kömmt. Die      
  Weiland=Metaphysiker gleichen den exilirten französischen Aristokraten      
  von mehr als einer Seite, namentlich aber darin, daß sie auf      
  hindostanische Castenordnung halten und nicht dulden können, wenn ein      
  Bürger der Gelehrten=Republik votiren will ausser dem Range, den sie      
  ihm anweisen. Wie trübseelige Urtheile habe ich nicht anhören müssen      
  über Ihr mir so theures und werthes Buch über Vernunftreligion, wofür      
  ich Ihnen noch meinen herzlichsten Dank schuldig bin! So überall      
  aufklären, meinen diese Herren, stehe nur einem Leibniz wohl, und bedenken      
  nicht, daß eben die Fackel, bei deren Licht die ganze Leibnizische      
  Monadenwelt wie ein Dunst erscheint, ihre Strahlen unvermeidlich      
  nach allen Seiten wirft. Einer Ihrer wahrhaftigsten Verehrer hier      
  ist unser trefflicher Lichtenberg.      
           
  Unwerth der Sache, die mir am Herzen liegt, würde ich seyn,      
  wenn ich mich bey Ihnen entschuldigen wolte wegen der Anmerkungen      
  zu meinem kleinen Buche, besonders denen zum zweiten Theile. Vielleicht      
  seh' ich mich genöthigt, sie künftig zurükzunehmen oder anders zu      
  modificiren. Aber wen auch die ehrwürdigste Autorität bindet, den      
  werden Sie sich, das weiß ich, nicht zum Mitarbeiter an der Sache      
  der Wahrheit wünschen.      
           
  Leben Sie nur noch lange, verehrungswürdiger Mann, um Alles      
  sagen zu können, was die Ihren bedürfen, und namentlich      
           
  Göttingen, den 25 Aug. 93. F Bouterwek.      
           
           
           
           
     

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