Kant: Briefwechsel, Brief 461, An Christoph Friedrich Hellwag.

     
           
 

 

 

 

 

 
  An Christoph Friedrich Hellwag.      
           
  3. Ian. 1791.      
           
  Wohlgebohrner      
  Hochzuverehrender Herr.      
  Der Ew: Wohlgeb. Gegenwärtiges zu überreichen die Ehre hat,      
  Hr. Nicolovius, mein ehemaliger Zuhörer und sehr wohldenkender      
  junger Mann, erbittet sich für die kurze Zeit seines Aufenthalts in      
  Eutin einige Bekanntschaft mit dem schätzbaren Cirkel Ihrer Freunde,      
  dergleichen man in großen Städten oft vergeblich zusammen zu bringen      
  sucht und der für Kopf und Herz doch so wohlthätig ist. Seine Bescheidenheit      
  wird es verhüten, daß dieses sein Gesuch Ihnen nicht zur      
  Beschwerde gereiche.      
           
  Die scharfsinnige Bemerkungen, womit Sie Ihren angenehmen      
  Brief angefüllet haben, werden mir noch manche Unterhaltung verschaffen.      
  Für jetzt, da ich noch nicht die Zeit habe gewinnen können,      
  denselben anhaltend nachzudenken, muß ich bitten mit meinem noch      
  unreifen Urtheile hierüber zufrieden zu seyn.      
           
  Was erstlich die Analogie zwischen Farben und Tönen betrifft, so      
           
  bringen Sie freylich die Aufgabe über ihr Verhältnis zum Geschmacksurtheile      
  (welches nicht ein bloßes Sinnenurtheil des Angenehmen und      
  Unangenehmen seyn soll) der Entscheidung näher: wobey mir Ihre      
  Stufenleiter der Vocalen, als der einzigen Laute, die für sich selbst      
  einen Ton bey sich führen können, wenn sie weiter verfolgt würde, von      
  Erheblichkeit zu seyn dünkt; weil niemand Musik denken kan, die er      
  nicht zugleich, so ungeschickt es auch sey, mit zu singen vermag; wobey      
  denn zugleich der Unterschied zwischen dem Farben= und Tonspiele,      
  von denen das erstere kein solches productives Vermögen der Einbildungskraft      
  voraussetzt, klar einleuchtet. Allein ich habe mich jetzt      
  zu sehr in andere Materien hinein gedacht, als daß ich vor der Hand      
  mich in die gegenwärtige Untersuchung gehorig versetzen könnte. Nur      
  muß ich anmerken: daß, wenn ich in der Crit. d. Ukr. von Personen      
  redete, die bey dem besten Gehör doch nicht Töne unterscheiden konnten,      
  ich dadurch nicht sagen wollte, daß sie nicht einen Ton vom anderen,      
  sondern schlechterdings nicht den Ton vom bloßen Schalle zu unterscheiden      
  im Stande waren; wobey mir mein vor 4 Iahren verstorbener      
  bester Freund, der engl: Kaufman Hr. Green, in Gedanken war, an      
  welchem seine Eltern in seiner Kindheit diesen Fehler bemerkten, ihn      
  daher auch das Clavier nach Noten spielen lernen ließen, der aber      
  weder da= noch nachmals es dahin gebracht hat, daß, wenn ein anderer      
  nun auf dem Clavier ein ganz anderes Stück spielete oder sang, er      
  den mindesten Unterschied dazwischen hätte bemerken können, so da      
  ihm Töne ein bloßes Geräusch waren, so wie ich von einer Familie      
  in England irgendwo gelesen habe, daß es darinn Personen gegeben      
  habe, die in der Ganzen Natur nichts als Licht und Schatten antrafen      
  und bey den gesundesten Augen alle Gegenstände nur wie in einem      
  Kupferstiche sahen. Merkwürdig war es bey meinem Freunde Green,      
  daß dieses Unvermögen sich auch auf die Poesie erstreckte, deren Unterschied      
  von der Prose er niemals woran anders als, daß die erstere      
  eine gezwunge[ne] und geschrobene Sylbenstellung sey, erkennen konnte;      
  daher er des Pope Essays on Man wohl gerne las, es aber unangenehm      
  fand, daß sie in Versen geschrieben waren.      
           
  Ihren Betrachtungen über das, was aus dem Unterschiede der      
  synthetischen und analytischen Sätze für die Logik, nämlich in Ansehung      
  der Inversionen folgt, werde ich gelegentlich nach gehen. Für      
  die Metaphysik, die nicht so wohl auf das sieht, was in Ansehung der      
           
  Stellung der Begriffe in einem Urtheile, mithin aus der bloßen Form      
  folgt, als vielmehr ob durch eine gewisse Art zu Urtheilen den gegebenen      
  Begriffen etwas (der Materie nach) zuwachse oder nicht, gehörte      
  jene Untersuchung eben nicht.      
           
  Was aber die Frage betrifft: welcher Grund sich wohl von dem      
  Gesetze der Abhängigkeit der Materie in Ansehung aller ihrer Veränderungen      
  von einer äußeren Ursache, imgleichen von der Gleichheit      
  der Wirkung und Gegenwirkung in dieser Veränderung durch      
  äußere Ursache geben lasse, so hätte ich freylich wohl in meinen Met:      
  Anf: Gr. d. N. W. auch den allgemeinen transscendentalen Grund      
  der Möglichkeit solcher Gesetze a priori angeben können, der etwa mit      
  folgendem in der Kürtze vorgestellt werden kan.      
           
  Alle unsere Begriffe von Materie enthalten nichts als blos Vorstellung      
  von äußeren Verhältnissen (wie dann der Raum auch nichts      
  anders vorstellig macht) das aber, was wir im Raume als existirend      
  setzen, bedeutet nichts weiter, als ein Etwas überhaupt, woran wir      
  uns auch keine andre Prädicate, als die eines äußeren Verhältnisses      
  vorstellen müssen, so fern wir es als bloße Materie betrachten, mithin      
  nichts was schlechterdings innerlich ist (Vorstellungskraft, Gefühl,      
  Begierde). Hieraus folgt: daß, da alle Veränderung eine Ursache      
  voraussetzt und eine schlechthin=innerliche Ursache der Veränderung      
  äußerer Verhältnisse (kein Leben) in der bloßen Materie nicht gedacht      
  werden muß, die Ursache aller Veränderung (aus der Ruhe in Bewegung      
  und umgekehrt, zusammt den Bestimmungen der letzteren) in      
  der Materie ausserhalb liegen müsse, mithin ohne eine solche keine      
  Veränderung statt finden könne; woraus folgt, daß kein besonderes      
  positives Princip der Beharrlichkeit der Bewegung, in der ein      
  Körper einmal ist, erforderlich sey, sondern blos das negative, da      
  keine Ursache der Veränderung da ist. - Was das zweyte Gesetz betrifft,      
  so gründet es sich auf dem Verhältnisse der wirkenden Kräfte      
  im Raume überhaupt, welches Verhältnis nothwendig wechselseitig      
  einander entgegengesetzt und jederzeit gleich seyn muß (actio est      
  aequalis reactioni), weil der Raum keine einseitige, sondern jederzeit      
  wechselseitige Verhältnisse, mithin auch die Veränderung derselben d. i.      
  die Bewegung und die Wirkung der Körper auf einander sie hervorzubringen      
  lauter wechselseitige und gleiche einander entgegengesetzte      
  Bewegungen möglich macht. Ich kan mir keine Linien von dem      
           
  Korper A zu allen Puncten des Körpers B gezogen denken, ohne auch      
  umgekehrt eben so viel gleiche Linien von Körper A zu B zu ziehen      
  und die Veränderung dieses Verhältnisses eines Korpers (B) durch      
  den Stoß des andern (A) zu diesem als wechselseitig und gleich zu      
  denken. Es bedarf hier also eben so wenig einer positiven besonderen      
  Ursache der Gegenwirkung des Körpers in den gewirkt wird, als beym      
  obigen Gesetze der Trägheit; im Raume und der Eigenschaft desselben,      
  daß in ihm die Verhältnisse wechselseitig entgegengesetzt und zugleich      
  sind (welches beym Verhältnisse successiver Zustände in der Zeit nicht      
  der Fall ist) liegt der alleinige hinreichende Grund dieser Gesetze.      
  Übrigens werde ich Lamberts Meynung über diesen Punct in seinen      
  Beyträgen nachsehen.      
           
  Ew: Wohlgeb: freundschaftliche Erinnerung an Hr. Prof: Kraus      
  ist an diesen würdigen Man der eine Zierde unserer Vniuersitaet ist      
  wohl bestellet worden. Die Weitläuftigkeit unseres Orts vermindert      
  gar sehr die Vereinigung des Umganges auch bey den freundschaftlichsten      
  Gesinnungen, daher ich den Gegengruß desselben jetzt noch      
  nicht melden kan.      
           
  An den Cirkel Ihrer vortreflichen Freunde Hrn. I[ustiz] R[ath]      
  Trede Hrn. H[of] R[ath] Voß und beyde Herrn Boie bitte mich zu empfehlen.      
  Was Sie mir von dem jüngeren der Letzteren gemeldet haben ist      
  mir überaus angenehm gewesen. Eine solche Methode zu predigen wird      
  aber nicht eher allgemein werden, als bis die Rechtschaffenheit der      
  Gesinnungen bey Lehreren (die nicht damit zufrieden ist, daß gute      
  Handlungen, gleich gut aus welchen Gründen, ausgeübt werden: sondern      
  auf die Reinigkeit des Bewegungsgrundes alles anlegt) gleichfalls      
  allgemein wird. - Ubrigens wünsche ich Zufriedenheit des Häuslichen,      
  Vergnügen im geselligen und gutes Gelingen in Ihrem geschäftigen      
  Leben noch lange Iahre und bin mit vollkommener Hochachtung      
           
    Ew: Wohlgeb.      
    ganz ergebenster Diener      
  Koenigsberg den 3ten Januar. 1791 I Kant      
           
           
           
           
     

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