Kant: Briefwechsel, Brief 462, Von Daniel Friedrich Koehler. |
|||||||
|
|
|
|
||||
Von Daniel Friedrich Koehler. | |||||||
20. Ian. 1791. | |||||||
Wohlgeborner und Hochgelehrter Herr, | |||||||
besonders Hochgeehrtester Herr Professor, | |||||||
Verzeihen Ewr: Wohlgeboren, daß ein Landprediger einmal auserhalb | |||||||
seiner Parochie und auserhalb der ihm zunächst angewiesenen | |||||||
Sphäre herumschweift und nun, da er in ein Labyrinth gerathen, ohne | |||||||
zu wissen wie er sich selbst überlassen, sich wieder zu rechte finden soll, | |||||||
Dieselben um gütige Handleitung ganz ergebenst bittet. Es betrift | |||||||
diese Bitte, wie mich dünkt, über dem eine Angelegenheit, welche das | |||||||
Beste der Menschheit, welches Dieselbigen so gerne befördern, das | |||||||
größeste Interesse derselben betrift und ich bin daher von Ihnen der | |||||||
Gewährleistung meiner Bitte so gewis, daß ich glaube sie zu diesem | |||||||
Zwecke nur vortragen zu dürfen | |||||||
In dem Pfarramte, welches ich, ehe ich hieher berufen wurd, bekleidete, | |||||||
hatte ich vor einem ausgesuchten Auditorio, jährlich verschiedene | |||||||
gestiftete Predigten hintereinander zu halten. Im lezten Iahre als | |||||||
ich daselbst war, fiehl es mir ein über die evangelische Menschenliebe | |||||||
in diesen Predigten dergestalt zu reden, daß ich in der ersten den Begrif | |||||||
von dieser Tugend festsezte, in der zweiten über die Möglichkeit | |||||||
in der dritten von der Nothwendigkeit derselben u.s.w. reden wolte. | |||||||
Muthig gieng ich an mein Vorhaben und freuete mich des glüklichen | |||||||
Fortgangs desselben, bis ich bei Bearbeitung der Predigt in welcher | |||||||
ich von der Nothwendigkeit der evangelischen Menschenliebe reden wolte, | |||||||
zu meinem nicht geringen Erstaunen gewahr wurd, daß ich selbst noch | |||||||
keinen hellen und deutlichen Begrif von dem was moralische Nothwendigkeit | |||||||
sey habe, um faßlich und verständlich davon reden zu können. | |||||||
Zwar bath ich alle meine todte und lebende Freunde, unter welchen | |||||||
lezteren sich der mir unvergeßliche Crugott befand, um Belehrung; | |||||||
allein vielen lebenden war das Wort zwar alt, aber der damit zu verbindende | |||||||
Begrif so nagelneu, daß ich den einzigen Crugott ausgenommen | |||||||
zu denen todten meine Zuflucht nahm. Was ich nachmals | |||||||
in Deroselben Critik fand, daß moralische Nothwendigkeit, Nothwendigkeit | |||||||
durch Freiheit sei, das war alles was ich entdekte, und dabei | |||||||
bliebs. Doederlein gab sich zwar bei mir das Ansehen mich in seiner | |||||||
Dogmatik nach den Bedürfnißen unserer Zeit belehren zu wollen; | |||||||
allein bei der Ueberzeugung daß moralische Nothwendigkeit, absolute | |||||||
Nothwendigkeit seye, und mithin für alle vernünftige Wesen gelten | |||||||
müße, leistete mir seine Definition, da er sie eine Nothwendigkeit durch | |||||||
Weisheit und Güte nennet, zu wenig, um auf mein Vorhaben dieselbe | |||||||
anwenden zu können und ich kehrte lieber wieder zu jener ersten zurük. | |||||||
Um inzwischen meiner Sache gewis zu werden, um die Sache heller | |||||||
und deutlicher einsehen zu können, bin ich so frei Ewr: Wohlgeboren | |||||||
ganz ergebenst zu bitten mich schriftlich und geneigt zu belehren, ob | |||||||
ich überhaupt den möglichst bestimtesten Begrif, von dem was moralische | |||||||
Nothwendigkeit sey gefaßt habe, in wie weit moralische Nothwendigkeit | |||||||
absolute Nothwendigkeit sey, ob dabei Modifikationen statt | |||||||
finden und in wie weit dieser Begrif auf jede und auf die vorhabende | |||||||
Tugendpflicht anzuwenden sey? Die kleinste Erweiterung und Berichtigung | |||||||
dieser Begriffe wird mir den wesentlichen Dienst leisten mit | |||||||
mehr Muth und Bestimmtheit zu Pflichten ermuntern zu können, zu | |||||||
deren Ausübung ihre moralische und absolute Nothwendigkeit, wie mich | |||||||
dünkt, das stärkste Motiv seyn kan und mich also, in dem sie mich | |||||||
Denenselben auf meine ganze Lebenszeit dankbarlich verpflichten wird, | |||||||
über den Gedanken beruhigen, einen Theil der Ihnen so kostbaren | |||||||
und vieleicht zu allgemeineren und nüzlicheren Untersuchungen bestimmten | |||||||
Zeit, welchen Sie, mir gütigst zu antworten, verschwenden | |||||||
werden, geraubt zu haben, vollkommen beruhigen. | |||||||
Mit ausgezeichneter und unwandelbarer Hochschätzung und Verehrung | |||||||
beharre ich | |||||||
Ewr: Wohlgeboren | |||||||
ganz ergebenster Diener | |||||||
Iaehnsdorf bei Crossen Daniel | Daniel Friderich Koehler | ||||||
den 20ten Ienner 1791. | Prediger | ||||||
[ abgedruckt in : AA XI, Seite 248 ] [ Brief 461 ] [ Brief 463 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |