Kant: Briefwechsel, Brief 460, Von Christoph Friedrich Hellwag. |
|||||||
|
|
|
|
||||
| Von Christoph Friedrich Hellwag. | |||||||
| Eutin. d. 13 Decemb. 1790. | |||||||
| Wohlgebohrner | |||||||
| Hochzuverehrender Herr Professor! | |||||||
| Euer Wohlgebohren erlauben, daß ich mich unterstehe, Ihre kostbare | |||||||
| Musse durch mein Schreiben zu unterbrechen: ich glaubte in Ansehung | |||||||
| dessen, was ich vorzutragen habe, eine Nachlässigkeit mir vorwerfen | |||||||
| zu müssen, wenn ich nicht darüber an Sie schriebe, indem ich | |||||||
| hoffte, eine Sache, die Sie problematisch vorstellen, einer Enscheidung, | |||||||
| die Ihrem Sinne gemäß ist, näher gebracht zu haben. Es betrifft | |||||||
| die Vergleichung der Farben des Regenbogens mit den Tönen der | |||||||
| musicalischen Octave; ein Aufsatz von mir darüber ist in einem Stücke | |||||||
| des deutschen Museums vom October 1786 S. 293-297 abgedruckt; | |||||||
| und verschiedene lehrreiche Stellen, die sich auf eine solche Vergleichung | |||||||
| beziehen, fand ich neulich zu meinem Vergnügen in Ihrer Critik der | |||||||
| Urtheilskraft, womit Sie kürzlich so manchem ehrlichgesinnten Wahrheitsfreunde | |||||||
| von Neuem ein schätzbares Geschenk gemacht haben. Anstatt | |||||||
| eine Abschrift von meinem angeführten Aufsatze beyzufügen, | |||||||
| nehme ich mir die Freyheit, das Wesentliche daraus in einem kurzen | |||||||
| Auszuge in dem Briefe selbst, der freylich dadurch ausgedehnt wird, | |||||||
| anzuführen. | |||||||
| Schon Kircher stellte die Regenbogenfarben mit den Tönen der | |||||||
| Octave zusammen: Newton bestimmte sogar die Breite des Bildes von | |||||||
| jeder Farbe nach der Länge der Saite für den zustimmigen Ton; | |||||||
| endlich wollte Castell Farbenaccorde und Farbenmelodien auf einem | |||||||
| Farbenclaviere darstellen: aber die Versuche entsprachen der angenommenen | |||||||
| Erwartung nicht, weil die Vergleichung, worauf sie beruhten, | |||||||
| unrichtig war. Man kann Licht und Schall in vieler Rücksicht | |||||||
| miteinander vergleichen, wie Euler auch gethan hat: ihre beyderseitige | |||||||
| Erregung in einem elastischen Mittel, ihr Fortrücken, ihre Ausbreitung, | |||||||
| den Durchgang und die Zurückprallung ihrer Strahlen, und, in Ansehung | |||||||
| unseres Standpunctes, die Schätzung der Gegend, wo das Licht | |||||||
| und der Schall herkommen. Bey so mannichfaltiger Uebereinstimmung | |||||||
| ist es natürlich, unter den Erscheinungen des Lichts eine zu suchen, | |||||||
| die sich mit den Stufen der Tonleiter vergleichen liesse, und eine unter | |||||||
| den Erscheinungen des Schalls, die mit den Farben des Prisma übereinkäme, | |||||||
| und leicht verfällt man also darauf, also die Töne mit den | |||||||
| Farben zu vergleichen. Ich wage es die Richtigkeit dieser Vergleichung | |||||||
| zu bestreiten. Alles, was wir sehen, hat Farbe und eine Stelle im | |||||||
| Gesichtsfelde, und, was wir hören, specifiken Klang, und eine Stelle in | |||||||
| der Tonleiter. Farbe ist dem Auge, was specifiker Klang dem Ohre | |||||||
| ist, und die Stelle eines sichtbaren Punktes im Gesichtsfelde dem Auge, | |||||||
| was dem Ohre eine gegebene Stelle in der Tonleiter. Durch den | |||||||
| Sinn des Gesichts vergleicht und unterscheidet man die Farben nach | |||||||
| ihrer Mischung, durch den Sinn des Gehörs die Verschiedenheiten des | |||||||
| Klangs verschiedener und gleicher auf verschiedene Art gerührter Instrumente, | |||||||
| auch nach einer Art von Mischung, die bey den Stellen der | |||||||
| Tonleiter nicht Statt findet. Die Farben für das Gehör scheinen viel | |||||||
| mannichfaltiger zu seyn, als für das Gesicht. Letztere lassen sich alle | |||||||
| auf weiß, gelb, roth, blau und schwarz reduciren, aber die Elemente | |||||||
| für alle Arten von Klang sind vielleicht unerschöpflich: ein Beyspiel | |||||||
| davon ist die menschliche Sprache. Darinn sind die Vocalen insonderheit | |||||||
| merkwürdig, daß sie zu einem Systeme zu gehören scheinen, | |||||||
| welches sich als vollständig denken läßt. a und i, und u sind die | |||||||
| Hauptvocalen; e steht zwischen a und i, ä zwischen a und e, o zwischen | |||||||
| a und u, å zwischen a und o; ü zwischen u und i, ö zwischen o und e. | |||||||
| Bey dem Diphthongen ai werden mit einem Schwunge der Sprachwerkzeuge | |||||||
| alle mögliche von a nach i laufende Zwischenstufen in einer | |||||||
| stetigen Folge ausgesprochen; ebenso sind die übrigen Diphthongen | |||||||
| beschaffen; sie sind stetig von einer Stelle des stetigen Vocalensystems | |||||||
| zur andern übergehende Mischungen, ähnlich dem Farbenspiele der | |||||||
| Seifenblasen. Auf der andern Seite beruht das Hervorbringen und | |||||||
| Schätzen der Töne, der Accorde und der Melodien auf der Ausmessung | |||||||
| der Tonleiter, so wie die Verzeichnung von Puncten und Zügen, mit | |||||||
| ihren Proportionen und Gestalten auf der Ausmessung des Gesichtsfeldes, | |||||||
| und hierinn gewährt umgekehrt das Gesicht eine grössere Mannichfaltigkeit | |||||||
| als das Gehör, weil die Tonleiter nur eine Dimension, das | |||||||
| Gesichtsfeld hingegen zwey Dimensionen mit sich bringt, worinn überdie | |||||||
| der Spielraum der Standpunkte viel grösser ist, als bey der | |||||||
| Tonleiter; Bey den Stellen des Gesichtsfeldes sowohl als bey den | |||||||
| Stellen der Tonleiter wird nicht an Mischung gedacht. | |||||||
| So weit der Auszug: nun komme ich zu den Stellen aus Ihrer | |||||||
| Critik der Urtheilskraft: ich führe dieselbe nicht durchaus mit Ihren | |||||||
| Worten an, theils um kurz zu seyn, theils um eine Probe zu geben, | |||||||
| wie fern ich den Sinn derselben treffe. Sie sagen S. 209. Man kann | |||||||
| nicht mit Gewißheit sagen, ob eine Farbe, oder ein Ton (Klang) bloß | |||||||
| angenehme Empfindungen, oder an sich schon ein schönes Spiel von | |||||||
| Empfindungen seyn. - Für bloß angenehm möchte man Farben und | |||||||
| Töne halten, weil man von den Licht= und Luftbebungen nur die Wirkung | |||||||
| auf den Sinn vernimmt, die bloß empfunden wird, nicht aber | |||||||
| die Zeiteintheilung, die ein Gegenstand der Reflexion wäre; für bloß | |||||||
| schön hingegen, erstlich weil man sich die Proportion der Schwingungen | |||||||
| bey Tönen und auf ähnliche Weise die Farbenabstechung mathematisch | |||||||
| bestimmbar vorstellt; und zweytens, weil scharfsehende oft Farben verwechseln, | |||||||
| ebenso, wie scharfhörende auch Töne oft falsch angeben oder | |||||||
| schätzen können. Hierauf darf ich erwiedern: man kann bey dem besten | |||||||
| Gesichte ein schlechtes Augenmaß haben, und bey dem besten Gehöre | |||||||
| die Aussprache einer fremden Sprache falsch vernehmen, daß man nicht | |||||||
| im Stande ist, sie treffend nachzuahmen, aus Mangel an Fertigkeit, | |||||||
| nicht bloß der Sprachwerkzeuge, sondern des Gehörs; und was den | |||||||
| ersten Punct betrifft, so sind im Gesichtsfelde nicht allein Farbenmischungen, | |||||||
| sondern vornemlich die scheinbare Grössen darinn, und | |||||||
| vor dem Sinn des Gehörs nicht allein die Töne, sondern auch stufenweise | |||||||
| Mischungen von Klängen, wie in der angeführten Vocalenleiter, | |||||||
| einer mathematischen Bestimmung fähig; und auf diese Art sind sichtbare | |||||||
| und hörbare Qualitäten und Quantitäten, nemlich Farben, und Klänge, | |||||||
| scheinbare Grössen und Töne sowohl objectiv genau bestimmbar als | |||||||
| auch subjectiv einer möglichen fehlerhaften Schätzung unterworfen; und | |||||||
| es steht hier also nichts im Wege, warum Musik nicht ein schönes | |||||||
| Spiel angenehmer Empfindungen, und Farbenkunst nicht auch ein | |||||||
| schönes Spiel derselben heissen könnte. Daß Sie nicht abgeneigt | |||||||
| seyn werden, meine Vergleichungen der Farben und Töne zu billigen, | |||||||
| darf ich aus S. 19 schliessen, wo Sie sagen: - Dem einen ist die | |||||||
| violette Farbe lieblich, dem andern erstorben. Einer liebt den Ton | |||||||
| der Blasinstrumente, der andere den von Saiteninstrumenten. - Mit | |||||||
| dem Schönen ist es anders bewandt. - Das Gebäude, was wir sehen, | |||||||
| das Concert, was wir hören, ist schön, also nicht für einen, sondern | |||||||
| für alle. Hieher gehört auch, was Sie S. 39 erklären, wo Sie von | |||||||
| einem reinen Geschmacksurtheile allen Antheil eines Reitzes ausschliessen, | |||||||
| und dagegen wieder eine Instanz einwerfen, wornach der Reitz für | |||||||
| sich zur Schönheit hinreichend scheinen möchte. Die grüne Farbe des | |||||||
| Rasenplatzes, der blosse Ton einer Violin, zum Unterschiede von (gleichgültigem) | |||||||
| Schalle und Geräusche, wird von den meisten an sich für | |||||||
| schön erklärt, ob zwar beyde lediglich Empfindung zum Grunde zu | |||||||
| haben scheinen, und darum nur angenehm genannt zu werden verdienten. | |||||||
| Allein man wird sie doch nur sofern schön finden, als beyde | |||||||
| rein sind. Vollkommene Reinigkeit ist nemlich hier ausser den objectiv | |||||||
| genau bestimmbaren, aber subjectiv unzuverlässigen Graden der Reinigkeit | |||||||
| der einzige subjectiv sichere Grad, und hat dadurch denjenigen Character | |||||||
| der Schönheit, der auf subjectiv sichere Schätzung Anspruch macht. | |||||||
| Ihre Antwort, womit Sie die Einwendung abfertigen, beruht also | |||||||
| auch auf derselben von mir bemerkten Mischbarkeit, die den gemeinschaftlichen | |||||||
| Charakter der Farben und der Klänge ausmacht. | |||||||
| Hiemit beschliesse ich diese Untersuchung, und bitte zugleich um | |||||||
| Gedult für die Verlängerung des Schreibens über einige Stücke, die | |||||||
| ich gerne zugleich anbringen möchte. | |||||||
| Zu der Stelle S. 16 Ihres angeführten Werks, wo Sie von dem | |||||||
| Geschmacke alles Interesse absondern, kann ich Ihnen ein merkwürdiges | |||||||
| Beyspiel anführen, von einem ehmaligen hiesigen Küchenmeister, | |||||||
| ein Philosoph, der hiesige Herr Iustitzrath Trede, das Zeugniß giebt, | |||||||
| daß er über den Sinn des Geschmacks sehr richtig philosophirt habe; | |||||||
| derselbe Mann pflegte über gewisse kunstmäßige Tafelgerichte das Urtheil | |||||||
| zu fällen: sie schmecken gut, aber mir nicht angenehm. | |||||||
| Folgende Nachricht kann dem Herzen des Mannes der die Grundlegung | |||||||
| zu Metaphysik der Sitten und die Critik der practischen Vernunft | |||||||
| geschrieben hat, nicht gleichgültig seyn. Der hiesige Conrector | |||||||
| an der lateinischen Schule Herr Boie, ein Bruder des Herausgebers | |||||||
| vom deutschen Museum, und Schwager des hiesigen Rectors Herrn | |||||||
| Hofraths Voß, studirt Ihre Schriften, besonders die ebengenannten, | |||||||
| und nahm Gelegenheit von dem, was er Ihnen verdankt, in einer | |||||||
| Predigt über Ap. Gesch. 10, 34 Gebrauch zu machen: es war hier | |||||||
| nichts von der der Canzel unwürdigen ars oratoria, und doch machte | |||||||
| die Predigt auf mehrere, die nicht, wie ich, die Quelle davon kannten, | |||||||
| einen ungewöhnlichen Eindruck, und mir war es, als wenn ich eine | |||||||
| solche Predigt noch nie gehört hätte. Sie hatte aber auch den Character, | |||||||
| den sie nach der Note S. 33 Ihrer Grundlegung zur Metaph. | |||||||
| d. Sitten haben mußte. | |||||||
| Ich schätze mich glücklich, an Trede und Boie zwey Freunde zu | |||||||
| besitzen, mit denen ich mich über Ihre Schriften bisweilen unterhalten | |||||||
| kann. | |||||||
| Nun eine Beobachtung über synthetische und analytische Sätze: | |||||||
| nemlich solche Sätze, die sich umkehren lassen, werden aus synthetischen | |||||||
| zu analytischen und umgekehrt. Das Subject im synthetischen Satze | |||||||
| faßt zwey Begriffe in sich, deren Synthesis die Bedingung des Prädikäts | |||||||
| ist; nach dem Umkehren vertreten diese beyden Begriffe die | |||||||
| Stelle des Prädikats, und können als einzelne Prädikate dienen in | |||||||
| zweyen Sätzen, weil die Synthesis dem Prädikate nicht nothwendig | |||||||
| zukommt, ausser in Definitionen, wo das Definitum Subject ist. Wird | |||||||
| ein analytischer Satz umgekehrt, dessen Prädicat nicht beyde Begriffe, | |||||||
| die zusammengehören, enthält, so wird in dem Subjecte des umgekehrten | |||||||
| nunmehr synthetischen Satzes der fehlende Begriff durch einen | |||||||
| Beysatz bemerkt, wie durch x die unbekannte Grösse in der Buchstabenrechnung. | |||||||
| Zum Beyspiel: alle physische Körper sind schwer; ist ein | |||||||
| synthetischer Satz: die Synthesis von physisch und Körper ist Bedingung | |||||||
| des Prädicats: schwer; denn nicht alles physische ist schwer, ein Regenbogen | |||||||
| ist physisch; nicht alle Körper in der weitern Bedeutung sind | |||||||
| schwer, der geometrische Körper ist auch ein Körper. Durch Umkehrung | |||||||
| ergeben sich hieraus zwey von einander unabhängige analytische | |||||||
| Sätze: alles Schwere ist ein physischer Körper; nemlich alles Schwere | |||||||
| ist physisch; alles Schwere ist Körper. Kehrt man jeden Satz für sich | |||||||
| um, so bekömmt das Subject des umgekehrten nunmehr synthetischen | |||||||
| Satzes einen Zusatz: nemlich gewisse physische Dinge sind schwer; gewisse | |||||||
| Körper sind schwer. Ein anderes Beyspiel: alle Körper sind | |||||||
| ausgedehnt, ist ein analytischer Satz; dazu gehört noch einer: alle | |||||||
| Körper haben drey Dimensionen; daraus durch Umkehrung der vollständige | |||||||
| synthetische Satz: alles Ausgedehnte mit drey Dimensionen ist | |||||||
| Körper; die Verbindung der beyden Begriffe im Subjecte ist Bedingung | |||||||
| des Prädicats; denn nicht alles Ausgedehnte ist Körper; Flächen sind | |||||||
| auch ausgedehnt; nicht alle Grössen von drey Dimensionen sind Körper; | |||||||
| Cubiczahlen sind auch Grössen von drey Dimensionen, wenn man den | |||||||
| Begriff der Dimension nicht auf ausgedehnte Grössen einschränkt. | |||||||
| Wenn also in einem synthetischen Satze die synthetische Hinzufügung | |||||||
| des Prädicats zum Subjecte auf einer Verknüpfung von Begriffen im | |||||||
| Subjecte beruht, so darf ich hoffen, daß diese meine Bemerkung Ihrer | |||||||
| Erklärung vom synthetischen Satze gemäß sey. | |||||||
| Noch eine Frage möchte ich gerne vornehmen, wenn ich nicht beschwerlich | |||||||
| falle. Wie geht es zu, daß ein bewegter Körper seine Bewegung | |||||||
| fortsetzt, wofern ihn nichts daran hindert, und daß ein Körper | |||||||
| dem, was seinen Bewegungszustand zu verändern strebt, widersteht? | |||||||
| Ein Körper sey in einem abgesonderten leeren Raume ausser aller | |||||||
| Verbindung mit andern Körpern: er werde nun durch einen andern | |||||||
| ihm näher kommenden Körper, der mit andern Körpern ausser dem | |||||||
| leeren Raume in gehöriger Verbindung steht, fortgeschoben: ich kann | |||||||
| mir den Erfolg nicht anders vorstellen, als der isolirte Körper werde | |||||||
| dem forttreibenden Körper keinen mechanischen Widerstand leisten, und | |||||||
| so bald das Forttreiben aufhört, in Ruhe seyn. Denn, was durch | |||||||
| das Fortschieben verändert wird, ist nicht der isolirte Körper, auch | |||||||
| nicht der leere Raum, sondern das Ganze, das der geschobene Körper | |||||||
| mit dem umgebenden Leeren ausmacht: nun ist aber dieses Ganze | |||||||
| nichts Reales, weil ein Theil desselben, das Leere, nichts Reales ist. | |||||||
| Iede Wirkung setzt aber etwas Reales voraus, dem die Kraft zu | |||||||
| wirken zugeschrieben wird, also findet bey dem Mangel des Realen | |||||||
| keine Wirkung statt, nemlich der Körper und das umgebende Leere | |||||||
| können miteinander keine Bewegung unterhalten, und keiner bewegenden | |||||||
| Ursache widerstehen. Wenn also im freyen Raume ein Körper | |||||||
| seine Bewegung von selbst fortsetzt, und ohne offenbare sinnliche Ursache | |||||||
| dem, was seinen Bewegungszustand verändern will, widersteht, | |||||||
| so ist etwas Reales, mit dem er im Raume gemeinschaftlich beydes | |||||||
| bewirkt. Diese ungenannte reale Ursache aller freyen Bewegung und | |||||||
| alles mechanischen Widerstandes gegen bewegende Kräfte muß schlechterdings | |||||||
| durch den Spielraum aller möglichen Bewegungen stetig und | |||||||
| gleichmässig verbreitet, und jedem bewegten oder ruhenden Punkte jedes | |||||||
| realen stetigen Körpers gleich gegenwärtig seyn. Sie ist unbeweglich, | |||||||
| weil sie keiner Bewegung bedarf, um auf bewegliche Dinge zu wirken; | |||||||
| sie ist für alle bewegliche Dinge vollkommen durchdringlich, um allen | |||||||
| Punkten derselben gegenwärtig zu seyn; sie macht von den 4 Lehrsätzen | |||||||
| der Mechanik in Ihren metaphysischen Anfangsgründen der | |||||||
| Naturwissenschaft S. 108 116. 119. 121 den Hauptgrund aus; ihre | |||||||
| Vorstellung macht den mechanischen Begriff von der Quantität der | |||||||
| Bewegung möglich; sie thut bey aller unmittelbaren Einwirkung auf | |||||||
| jeden Punkt des Beweglichen, das heißt, bey ihrer Durchdringlichkeit, | |||||||
| der Quantität der Materie keinen Eintrag; ihre Wirkung wird durch | |||||||
| Ursachen ausser ihr und ausser dem bewegten Körper verändert; sie | |||||||
| erhält den Körper in seinem Zustande der Ruhe oder der Bewegung | |||||||
| (in seinem Bewegungszustande) in derselben Richtung, und mit derselben | |||||||
| Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine Ursache ausser ihm | |||||||
| und ausser ihr genöthigt wird, diesen Zustand zu verlassen; sie ist es, | |||||||
| die in aller Mittheilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung | |||||||
| einander gleich macht. Diese Betrachtungen hatte ich für mich schon | |||||||
| so weit vollendet, als mir neulich Lamberts Beyträge zum Gebrauche | |||||||
| der Mathematik und deren Anwendung in die Hände kamen, wo ich | |||||||
| das unerwartete Vergnügen hatte, einen neuern Philosophen zu finden, | |||||||
| dessen Spekulationen über die Trägheit der Körper mit meinen Gedanken | |||||||
| so sehr übereinstimmen. Die Hauptstelle darüber findet sich im | |||||||
| § 121 der Abhandlung von den Grundlehren des Gleichgewichts und | |||||||
| der Bewegung im zweyten Bande des angeführten Werks. Ich will | |||||||
| meinen langen Brief nicht mit Abschreibung dieser Stelle weiter ausdehnen, | |||||||
| da ich voraussetzen kann, daß Sie Gelegenheit haben, das | |||||||
| Buch selbst nachzulesen; ich führe nur an, daß mein freyer Raum | |||||||
| bey Lambert von aller Materie, aber nicht von immateriellen Substanzen | |||||||
| leer ist; und meine ungenannte Ursache der freyen Bewegung | |||||||
| und des Widerstandes freyer Massen heißt bey ihm ein Vehiculum | |||||||
| zur Fortsetzung der Bewegung, welche er durch eine fortgepflanzte | |||||||
| Undulation erklärt, vermittelst welcher die bewegte Materie fortgeführt | |||||||
| wird. Der Widerstand erfodert ihm ein Haften der Materie an dem | |||||||
| Orte, wo sie ist; und dieses Haften erklärt er sich auch durchsein sogenanntes | |||||||
| Vehiculum. Er läßt es § 125 unentschieden, ob dieses | |||||||
| Vehiculum nicht an verschiedenen Orten verschiedene Intensität habe. | |||||||
| Ausser Lambert ist mir von neuern Philosophen keiner vorgekommen, | |||||||
| der diese Idee verfolgt hätte. In Sturms Physica electiva T. 1. | |||||||
| werden hierüber verschiedene Meynungen zusammengestellt, und am | |||||||
| Ende, Seite 757, der Wille Gottes zur unmittelbaren Ursache des | |||||||
| Gesetzes der Bewegung und des Widerstandes freyer Körper angegeben. | |||||||
| Auch Mallebranche begnügt sich mit diesem Princip in | |||||||
| seinen Recherches de la Verite T. II. L. 6. C. 9. Hingegen Baco | |||||||
| von Verulam, der Erweiterer der Naturwissenschaft seines Zeitalters | |||||||
| eifert über die unbefriedigende Abfertigungen dieser Frage, besonders | |||||||
| von Aristoteles und dessen Schülern und Nachbetern: die Hauptstelle | |||||||
| hievon steht in seinem Werke Impetus philosophici ; im Abschnitte | |||||||
| cogitationes de nat. rer . VIII . de motu violento ; S. 722ff. Opp. | |||||||
| omn. ed. Arnoldi 1694. Seine Erklärung - fit continua & intentissima | |||||||
| ( licet minime visibilis ) partium trepidatio & commotio | |||||||
| finde ich übrigens auch nicht befriedigend. In Ihren schätzbaren | |||||||
| Schriften finde ich von meiner gegenwärtigen Frage keine ausdrückliche | |||||||
| Erörterung: Ihre Vergleichung des Plato mit einer Taube, die, um | |||||||
| freyer fliegen zu können, den Luftleeren Raum suchen möchte, (Crit: | |||||||
| der r. V. S. 9 d. 2 Ausg.) ließ es mich hoffen, sie noch zu entdecken. | |||||||
| Daß Sie mit Mallebranche und Sturm nicht einstimmen, wußte ich | |||||||
| gewiß, wenn Sie sich auch in der Crit. d. r. V. S. 801 gegen das | |||||||
| Princip der ratio ignava nicht erklärt hätten; und vermuthen darf ich | |||||||
| vielleicht, daß Sie mein allgemeines reales stetiges Medium, wodurch | |||||||
| ich die Bewegung und den Widerstand freyer Massen zu erklären suche, | |||||||
| nicht verwerflich finden werden. Sie wollen zwar die Benennung vis | |||||||
| inertiae abgeschaft wissen, (Anfgr. d. Nat. W. S. 132) aber ich habe | |||||||
| mich derselben enthalten, weil ich ihrer vollkommen entbehren kann, | |||||||
| und ihr die Schuld beymesse, warum ich glaube, daß man den Gegenstand | |||||||
| meiner Frage so stillschweigend übergeht; und Ihre gerechten | |||||||
| Vorwürfe gegen jenen Namen treffen, dünkt mich, meine Erklärung nicht. | |||||||
| Wo ich nicht irre, unterhielt ich mich einst in Göttingen mit dem | |||||||
| Herrn Prof. Krauß über diese Materie. Ich nehme hier gerne Gelegenheit, | |||||||
| von diesem würdigen Manne, der ohne Zweifel Ihr Freund | |||||||
| ist, zu bezeugen, daß sein für Kopf und Herz mir damals so interessanter | |||||||
| Umgang, dessen ich zeitlebens mich dankbar erinnern werde, | |||||||
| manche noch lange nachher wohlthätige Eindrücke bey mir hinterlassen | |||||||
| hat, und sein Andenken erregt oft den Wunsch in mir, um ihn seyn | |||||||
| zu dürfen. Darf ich so frey seyn, und bitten, meinen besten Gru | |||||||
| ihn wissen zu lassen? Er wird Ihnen sagen, daß ich ein Würtemberger | |||||||
| bin. Ich kam im Iahr 1782 nach Oldenburg bey Bremen zu | |||||||
| dem jetzigen Fürstbischoff zu Lübeck u. Herzog zu Oldenburg, der damals | |||||||
| Coadjutor war, als Leibarzt; ich heurathete daselbst im Iahr 1784; | |||||||
| und wurde im Iahr 1788 hieher nach Eutin versetzt, mit dem Character | |||||||
| als Hofrath und Leibarzt, indem nach Oldenburg der berühmte | |||||||
| Hr D. Marcard als Leibarzt berufen wurde. Diese Nachrichten können | |||||||
| vielleicht meinen ehmaligen Freund interessiren. Nun vergeben Sie | |||||||
| mir meinen langen Brief: ich würde mich unaussprechlich freuen, wenn | |||||||
| Sie mich mit einer auch noch so kurzen Antwort beehrten; aber ich | |||||||
| bescheide mich gerne, wenn es auch nicht geschieht, weil viel wichtigere | |||||||
| Dinge Anspruch auf Ihre Musse machen. Gott erhalte Ihr kostbares | |||||||
| Leben und Gesundheit noch lange: dieses ist der lebhafteste redlichste | |||||||
| Wunsch | |||||||
| Ihres | |||||||
| aufrichtigen Verehrers | |||||||
| Christoph Friederich Hellwag. | |||||||
| Med. & Philos. Dr. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XI, Seite 236 ] [ Brief 459a ] [ Brief 461 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
|||||||