Kant: Briefwechsel, Brief 447, [Von August Wilhelm Rehberg.]

     
           
 

 

 

 

 

 
  [Von August Wilhelm Rehberg.]      
           
  Vor d. 25. Sept. 1790.      
           
  Es heißt p. 188 der Critik der reinen Vernunft 2te Aufl. Mathematische      
  Sätze werden aus der Anschauung, und nicht aus dem      
  Verstandesbegriffe gezogen.      
           
  In Ansehung der geometrischen hat dies wohl keinen Zweifel,      
  wie denn auch z. B. der Satz daß in jedem Triangel zwey Seiten      
  größer und als die dritte und andre, nicht aus dem Schema das dem      
  Begriffe vom Triangel zum Grunde liegt, sondern nur also erwiesen      
  wird, daß die drey Arten von Dreyecken in der Anschauung dargestellt      
  werden.      
           
  In Ansehung der arithmetischen Wahrheiten aber scheint es nicht      
  also beschaffen zu seyn. z. Beyspiele erhellt die Unmöglichkeit von √2      
  nicht aus der Anschauung des Schema 2 in irgend einer Anschauung,      
  sondern aus der Zahl selbst. Es heißt zwar p. 182 der Critik, daß die      
  Zahl eine successive Addition sey, und es scheint sonach als wenn der      
  Grund der synthetischen Sätze der Arithmetik und Algebra in dem Anschauen      
  der reinen Form aller Sinnlichkeit, der Zeit zu suchen seyn solle,      
  so wie der Grund der synthet. Sätze der Geometrie in der Anschauung      
  des Raums erhellt. Allein, wenn gleich die sinnlichen Erscheinungen,      
  der Anwendung arithmetischer Wahrheiten unstreitig nur dadurch      
  unterworfen sind, daß die Zeit als allgemeinere Form jener,      
  durch die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft der Anwendung      
  der Verstandesbegriffe unterworfen sind, so scheint es doch,      
  als ob die Wahrheit der arithmetischen Sätze selbst, nicht aus dem      
  Anschauen der reinen Form der Sinnlichkeit erhelle: indem kein Anschauen      
  der Zeit dazu erforderlich ist, um die arithmetischen      
  und algebraischen Beweise zu führen, welche vielmehr unmittelbar      
           
  aus den Begriffen der Zahlen erhellen, und nur sinnlicher Zeichen      
  bedürfen, woran sie während und nach der Operation des Verstandes,      
  wieder erkannt werden: keinesweges aber reinsinnlicher Bilder, so wie      
  die Geometrie, um an ihnen die Beweise zu führen.      
           
  Hieraus würde begreiflich werden, warum die beyden Formen der      
  Sinnlichkeit, Raum sowohl als Zeit, den synthetischen arithmetischen      
  und algebraischen Wahrheiten unterworfen sind denn die Anwendung      
  der Arithmetik und Algebra auf Geometrie scheint nicht der      
  geringsten Dazwischenkunft der Vorstellung Zeit zu bedürfen:      
  die Gegenstände der Geometrie sind der Algebra weder als successiv      
  noch als coexistent, sondern überhaupt, dafern sie nur vorgestellt      
  werden, nicht dafern sie, oder weil sie in der Zeit gedacht würden,      
  unterworfen.      
           
  Es entsteht hier freylich eine große Schwierigkeit, und welche unauflöslich      
  seyn dürfte. Wie geht es nehmlich zu, daß der Verstand      
  bey der Erzeugung der Zahlen, welches ein reiner Actus seiner      
  Spontaneität ist, an die synthetischen Sätze der Arithmetik      
  und Algebra gebunden ist? Warum kann er, der Zahlen      
  willkührlich hervorbringt keine √ √2 Zahlen denken? Da ihn      
  doch die Natur der Form der Sinnlichkeit nicht verhindert,      
  so wie die Natur des Raumes ihn hindert gerade Linien zu denken      
  die gewissen krummen gleich wären. Der Grund dieser Unmöglichkeiten      
  und der Grund aller synthetischen Wahrheiten der Arithmetik und Algebra      
  müsste in der alles menschliche Untersuchungsvermögen übersteigenden      
  Natur des ursprünglichen transscendentalen Vermögens      
  der Einbildungskraft und der Verbindung desselben mit dem      
  Verstande, zu suchen seyn.      
           
  Dies vorausgesetzt, fragt sich's, ob es nicht möglich sey, ein      
  transscendentales System der Algebra zu entdecken, in welchem      
  die Möglichkeit, und die Art der Auflösung derjenigen Gleichungen,      
  welche bis itzt nur einzeln, durch regellose Versuche gesucht wird,      
  a priori aus Principien entschieden würde? Die Beantwortung      
  dieser Frage scheint auf die oben angegebene Schwierigkeiten großes      
  Licht werfen zu können.      
           
           
           
           
     

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