Kant: Briefwechsel, Brief 448, An August Wilhelm Rehberg. |
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An August Wilhelm Rehberg. | |||||||
Vor d. 25. Sept. 1790. | |||||||
Die Aufgabe ist: Warum kan der Verstand, der Zahlen willkührlich | |||||||
hervorbringt keine √ 2 in Zahlen denken? Denn, wenn er sie | |||||||
denkt, so muß er sie, wie es scheint, auch machen können; indem die | |||||||
Zahlen reine Actus seiner Spontaneität sind und die synthetische Sätze | |||||||
der Arithm. und Algebra können ihn durch die Bedingungen der Anschauung | |||||||
in Raum und Zeit nicht einschränken. Es scheint also: man | |||||||
müsse ein transscendentales Vermögen der Einbildungskraft, nämlich | |||||||
ein solches, welches in der Vorstellung der objecte, unabhängig selbst | |||||||
von Raum und Zeit, blos dem Verstande zu Folge Vorstellungen | |||||||
synthetisch verbände, und von dem ein besonderes System der Algebra | |||||||
abgeleitet werden könnte, annehmen, dessen nähere Kentnis (wenn sie | |||||||
möglich wäre) die Methode der Auflösung der Gleichungen zu ihrer | |||||||
größten Allgemeinheit erheben würde. | |||||||
So verstehe ich nämlich die an mich geschehene Anfrage. | |||||||
Versuch einer Beantwortung Derselben | |||||||
1) Ich kan jede Zahl als das Product aus zwey Factoren ansehen, | |||||||
wenn diese mir gleich nicht gegeben sind und auch nie in Zahlen | |||||||
gegeben werden können. Denn es sey die gegebene Zahl = 15 so | |||||||
kan ich den einen Factor daraus sie entspringt = 3 annehmen und | |||||||
der andere ist alsdann = 5, mithin 3 x 5 = 15. Oder der gegebene | |||||||
Factor sey = 2; so würde der gesuchte andere Factor 15/2 seyn. Oder | |||||||
der erstere sey ein Bruch = 1/7 so ist der andere Factor 105/7 u.s.w. | |||||||
Also ist es möglich zu jeder Zahl als Product wenn ein Factor gegeben | |||||||
ist den anderen zu finden | |||||||
2) Wenn aber keiner der beyden Factoren sondern nur ein Verhältnis | |||||||
derselben, z. B. daß sie gleich seyn sollten, gegeben ist, so, da | |||||||
das gegebene Factum = a, der gesuchte Factor = x ist, so ist die | |||||||
Aeqvation 1 : x = x : a d. i. er ist die mittlere geometrische Proportionalzahl | |||||||
zwischen 1 und a und, da diesem gemäß a = x², so ist | |||||||
√ x = √a d.i. die Qvadratwurzel aus einer gegebenen Größe z. B. | |||||||
√2 ist durch die mittlere Proportionalzahl zwischen 1 und der gegebenen | |||||||
Zahl =2 ausgedrückt. Es ist also auch moglich eine solche Zahl zu | |||||||
denken. | |||||||
Daß nun die mittlere Proportionalgröße zwischen einer die | |||||||
= 1 und einer andern welche = 2 ist gefunden werden könne, mithin | |||||||
jene kein leerer Begrif (ohne Object) sey, zeigt die Geometrie an der | |||||||
Diagonale des Qvadrats. Es ist also nur die Frage warum für | |||||||
dieses Qvantum keine Zahl gefunden werden könne welche die Qvantität | |||||||
(ihr Verhaltnis zur Einheit) deutlich und vollständig im Begriffe | |||||||
vorstellt. | |||||||
Daß auch daraus, daß jede Zahl als Qvadratzahl von irgend | |||||||
einer anderen als Wurzel müsse vorgestellt werden können, nicht folge, | |||||||
die letztere müsse rational seyn, d. i. ein auszählbares Verhaltnis zur | |||||||
Einheit haben, läßt sich nach dem Satze der Identität, aus dem der | |||||||
Aufgabe zum Grunde liegenden Begriffe, nämlich dem zweyer gleichen | |||||||
(aber unbestimmten) Factoren zu einem gegebenen Product einsehen; | |||||||
denn in diesen ist gar kein bestimmtes Verhaltnis zur Einheit sondern | |||||||
nur ihr Verhaltnis zu einander gegeben. - Daß aber diese Wurzel | |||||||
gleichwohl in der Zahlreihe, zwischen zwey Gliedern derselben (so | |||||||
fern sie z. B. decadisch eingetheilt ist) immer noch ein Zwischenglied | |||||||
und in demselben ein Verhaltnis zur Einheit angetroffen wird, folgt | |||||||
aus Nr. 1 wenn nämlich ein Glied der Wurzel in dieser Reihe gefunden | |||||||
worden. - Daß aber der Verstand, der sich willkührlich den | |||||||
Begrif von √ √2 macht, nicht auch den vollständigen Zahlbegrif, nämlich | |||||||
durch das rationale Verhaltnis derselben zur Einheit hervorbringen | |||||||
könne, sondern sich, gleichsam von einem andern Vermögen geleitet, | |||||||
müsse gefallen lassen in dieser Bestimmung eine unendliche Annäherung | |||||||
zur Zahl einzuschlagen, das hat in der That die successive Fortschreitung | |||||||
als die Form alles Zählens und der Zahlgrößen, also die dieser | |||||||
Größenerzeugung zugrunde liegende Bedingung, die Zeit, zum | |||||||
Grunde. | |||||||
Zwar bedarf der bloße Begrif einer Qvadratwurzel aus einer | |||||||
positiven Größe √= √a wie ihn die Algebra vorstellt, gar keiner | |||||||
Synthesis in der Zeit; eben so auch die Einsicht der Unmöglichkeit der | |||||||
Wurzel aus einer negativen Größe √ = √-a (in welcher sich die | |||||||
Einheit, als positive Größe, sich zu einer anderen = x ebenso verhalten | |||||||
müßte wie diese zu einer negativen *) welche sich, ohne Zeitbedingung | |||||||
damit zu bewegen, aus bloßen Größenbegriffen erkennen läßt. So | |||||||
bald aber, statt α, die Zahl, wovon es das Zeichen ist, gegeben wird, | |||||||
um die Wurzel derselben nicht blos zu bezeichnen, wie in der | |||||||
Algebra, sondern auch zu finden, wie in der Arithmetik: so ist die | |||||||
Bedingung aller Zahlerzeugung, die Zeit, hiebey unumganglich zum | |||||||
Grunde liegend und zwar als reine Anschauung, in welcher wir nicht | |||||||
allein die gegebene Zahlgröße sondern auch von der Wurzel, ob sie | |||||||
als ganze Zahl, oder, wenn dieses nicht möglich ist, nur durch eine | |||||||
ins Unendliche abnehmende Reihe von Brüchen, mithin als Irrationalzahl | |||||||
gefunden werden könne, uns belehren können. | |||||||
Daß nicht der bloße Verstandsbegrif von einer Zahl, sondern | |||||||
eine Synthesis in der Zeit, als einer reinen Anschauung, dem Begriffe | |||||||
der Qvadratwurzel einer bestimmten Zahl, z. B. der Zahl 15, zum | |||||||
Grunde gelegt werden musse, ist daraus klar: daß wir aus dem bloßen | |||||||
Begriffe einer Zahl allein niemals beurtheilen können, ob die Wurzel | |||||||
derselben rational oder irrational seyn werde. Wir müssen es mit ihr | |||||||
versuchen, entweder, indem wir in Zahlen bis 100 die Producte | |||||||
aller kleineren ganzen Zahlen in sich selbst mit dem gegebenen Qvadrat | |||||||
blos nach dem Einmaleins vergleichen, oder in größeren durch Eintheilung | |||||||
desselben, nach dem allgemein bewiesenen Satze, der Bestandtheile | |||||||
eines Qvadrats, einer zwey= oder überhaupt vieltheiligen Wurzel, | |||||||
die Theile derselben nach und nach suchen, in allen aber, wo der Versuch | |||||||
mit einer in sich selbst multiplicirten ganzen Zahl nicht das | |||||||
Qvadrat giebt, die Theiler der Einheit, nach einer gewissen Proportion, | |||||||
z. B. der decadischen, wachsen lassen, welche zu Nenner einer ins | |||||||
Unendliche abnehmenden Reihe von Brüchen dienen, die, weil sie nie | |||||||
vollendet seyn kan, obgleich sich der Vollendung so nahe bringen läßt | |||||||
als man will, die Wurzel (aber nur auf irrationale Art) ausdrückt. | |||||||
Gesetzt nun, wir könnten nicht a priori beweisen und auch nicht | |||||||
wie es zugehe erklären: daß, wenn die Wurzel einer gegebenen | |||||||
Größe nicht in ganzen Zahlen gefunden werden kan, sie | |||||||
auch nicht in Brüchen bestimt (gleichwohl aber doch so weit annäherend | |||||||
als man will) gegeben werden könne, so würde dieses ein | |||||||
*) Da dieses wiedersprechend ist so ist √ √-a der Ausdruck für eine unmögliche | |||||||
Größe. | |||||||
Phänomen von dem Verhältnis unserer Einbildungskraft zum Verstande | |||||||
seyn, welches wir zwar durch mit Zahlen angestellte Versuche warnehmen, | |||||||
aber uns gar nicht aus Verstandesbegriffen erklären könnten. | |||||||
nun kan aber das erstere allerdings geschehen: folglich ist die Vermuthung | |||||||
des letzteren nicht nöthig. | |||||||
Mir scheint das Befremdliche, welches der scharfsinnige Verfasser | |||||||
der Aufgabe in der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der Ausführung | |||||||
des Verstandesbegrifs von einer mittleren Proportionalgroße | |||||||
durch die Arithmetik gefunden hat, sich eigentlich auf die Möglichkeit | |||||||
der geometrischen Construction solcher Größen, die doch in | |||||||
Zahlen niemals vollständig gedacht werden können, zu gründen. | |||||||
Denn, daß sich zu jeder Zahl eine Qvadratwurzel finden lassen | |||||||
müsse, allenfalls eine solche, die selbst keine Zahl, sondern nur die | |||||||
Regel der Annäherung zu derselben, wie weit man es verlangt, scheint | |||||||
mir diese Befremdung des Verstandes über √ √2 eben nicht zu bewirken: | |||||||
sondern daß sich dieser Begrif geometrisch construiren läßt, mithin | |||||||
nicht blos denkbar, sondern auch in der Anschauung adäqvat anzugeben | |||||||
sey, wovon der Verstand den Grund gar nicht einsieht, ja nicht einmal | |||||||
die Möglichkeit eines Objects √ = √2 anzunehmen befugt ist, weil er | |||||||
so gar nicht einmal den Begrif einer solchen Qvantität in der | |||||||
Zahlanschauung adäqvat darzulegen im Stande ist desto weniger also | |||||||
erwarten sollte, daß ein solches Qvantum a priori gegeben werden | |||||||
könne. | |||||||
Die Nothwendigkeit der Verknüpfung der beyden sinnlichen Formen, | |||||||
Raum und Zeit, in der Bestimmung der Gegenstände unserer Anschauung, | |||||||
so daß die Zeit, wenn sich das Subject selbst zum Objecte | |||||||
seiner Vorstellung macht, als eine Linie vorgestellt werden muß, um | |||||||
sie als Qvantum * zu erkennen, so wie umgekehrt eine Linie nur dadurch, | |||||||
daß sie in der Zeit construirt werden muß, als Qvantum gedacht | |||||||
werden kan, - diese Einsicht der Nothwendigen Verknüpfung des | |||||||
inneren Sinnes mit dem äußeren selbst in der Zeitbestimmung unseres | |||||||
Daseyns, scheint mir zum Beweise der objectiven Realität der Vorstellungen | |||||||
äußerer Dinge (wieder den psychol: Idealism) Handreichung | |||||||
zu thun, die ich aber jetzt nicht weiter verfolgen kan. | |||||||
[ abgedruckt in : AA XI, Seite 207 ] [ Brief 447 ] [ Brief 449 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |