Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 372

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gesetz der Empfindung bringen lassen und also nur eine Regellosigkeit      
  02 in den Zeugnissen der Sinne beweisen würden (wie es in der That mit      
  03 den herumgehenden Geistererzählungen bewandt ist), so ist rathsam sie      
  04 nur abzubrechen: weil der Mangel der Einstimmung und Gleichförmigkeit      
  05 alsdann der historischen Erkenntniß alle Beweiskraft nimmt und sie      
  06 untauglich macht, als ein Fundament zu irgend einem Gesetze der Erfahrung      
  07 zu dienen, worüber der Verstand urtheilen könnte.      
           
  08 So wie man einerseits durch etwas tiefere Nachforschung einsehen      
  09 lernt, daß die überzeugende und philosophische Einsicht in dem Falle, wovon      
  10 wir reden, unmöglich sei, so wird man auch andererseits bei einem      
  11 ruhigen und vorurtheilfreien Gemüthe gestehen müssen, daß sie entbehrlich      
  12 und unnöthig sei. Die Eitelkeit der Wissenschaft entschuldigt gerne      
  13 ihre Beschäftigung mit dem Vorwande der Wichtigkeit, und so giebt man      
  14 auch hier gemeiniglich vor, daß die Vernunfteinsicht von der geistigen      
  15 Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode,      
  16 diese aber zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr nöthig      
  17 sei; die müßige Neubegierde aber setzt hinzu, daß die Wahrhaftigkeit der      
  18 Erscheinungen abgeschiedener Seelen von allem diesem sogar einen Beweis      
  19 aus der Erfahrung abgeben könne. Allein die wahre Weisheit ist      
  20 die Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstande die      
  21 Vorschrift giebt, so macht sie gemeiniglich die große Zurüstungen der Gelehrsamkeit      
  22 entbehrlich, und ihre Zwecke bedürfen nicht solcher Mittel, die      
  23 nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können. Wie? ist es denn nur      
  24 darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andre Welt giebt, oder werden      
  25 die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich      
  26 selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht      
  27 unmittelbare sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner      
  28 Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere      
  29 Welt ansetzen? Kann derjenige wohl redlich, kann er wohl tugendhaft      
  30 heißen, welcher sich gern seinen Lieblingslastern ergeben würde, wenn ihn      
  31 nur keine künftige Strafe schreckte, und wird man nicht vielmehr sagen      
  32 müssen, daß er zwar die Ausübung der Bosheit scheue, die lasterhafte      
  33 Gesinnung aber in seiner Seele nähre, daß er den Vortheil der tugendähnlichen      
  34 Handlungen liebe, die Tugend selbst aber hasse? Und in der      
  35 That lehrt die Erfahrung auch: daß so viele, welche von der künftigen      
  36 Welt belehrt und überzeugt sind, gleichwohl dem Laster und der Niederträchtigkeit      
  37 ergeben, nur auf Mittel sinnen, den drohenden Folgen der      
           
     

[ Seite 371 ] [ Seite 373 ] [ Inhaltsverzeichnis ]