Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 373

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Zukunft arglistig auszuweichen; aber es hat wohl niemals eine rechtschaffene      
  02 Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß      
  03 mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur      
  04 Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Daher scheint es der menschlichen      
  05 Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der      
  06 künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt      
  07 ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen.      
  08 So ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher      
  09 Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig      
  10 und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er      
  11 ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt. Laßt uns demnach      
  12 alle lärmende Lehrverfassungen von so entfernten Gegenständen der Speculation      
  13 und der Sorge müßiger Köpfe überlassen. Sie sind uns in der      
  14 That gleichgültig, und der augenblickliche Schein der Gründe für oder      
  15 dawider mag vielleicht über den Beifall der Schulen, schwerlich aber etwas      
  16 über das künftige Schicksal der Redlichen entscheiden. Es war auch      
  17 die menschliche Vernunft nicht gnugsam dazu beflügelt, daß sie so hohe      
  18 Wolken theilen sollte, die uns die Geheimnisse der andern Welt aus den      
  19 Augen ziehen, und den Wißbegierigen, die sich nach derselben so angelegentlich      
  20 erkundigen, kann man den einfältigen, aber sehr natürlichen Bescheid      
  21 geben: daß es wohl am rathsamsten sei, wenn sie sich zu gedulden      
  22 beliebten, bis sie werden dahin kommen. Da aber unser      
  23 Schicksal in der künftigen Welt vermuthlich sehr darauf ankommen mag,      
  24 wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe      
  25 ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide nach so      
  26 viel unnützen Schulstreitigkeiten zum Beschlusse sagen läßt: Laßt uns      
  27 unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten!      
           
           
     

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