Kant: AA II, Träume eines Geistersehers, ... , Seite 349 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | ihre Schalen vertauschen läßt, und die Parteilichkeit der Verstandeswage | ||||||
02 | offenbart sich durch eben denselben Kunstgriff, ohne welchen man auch in | ||||||
03 | philosophischen Urtheilen nimmermehr ein einstimmiges Facit aus den | ||||||
04 | verglichenen Abwiegungen herausbekommen kann. Ich habe meine Seele | ||||||
05 | von Vorurtheilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt, | ||||||
06 | welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten Wissen in mir | ||||||
07 | Eingang zu verschaffen. Jetzt ist mir nichts angelegen, nichts ehrwürdig, | ||||||
08 | als was durch den Weg der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und für alle | ||||||
09 | Gründe zugänglichen Gemüthe Platz nimmt; es mag mein voriges Urtheil | ||||||
10 | bestätigen oder aufheben, mich bestimmen oder unentschieden lassen. | ||||||
11 | Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne ich es mir zu. Das | ||||||
12 | Urtheil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, ist mein Urtheil, nachdem | ||||||
13 | ich es vorerst gegen die Schale der Selbstliebe und nachher in derselben | ||||||
14 | gegen meine vermeintliche Gründe abgewogen und in ihm einen | ||||||
15 | größeren Gehalt gefunden habe. Sonst betrachte ich den allgemeinen | ||||||
16 | menschlichen Verstand blos aus dem Standpunkte des meinigen: jetzt setze | ||||||
17 | ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft und beobachte | ||||||
18 | meine Urtheile sammt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte | ||||||
19 | anderer. Die Vergleichung beider Beobachtungen giebt zwar starke Parallaxen, | ||||||
20 | aber sie ist auch das einzige Mittel, den optischen Betrug zu verhüten | ||||||
21 | und die Begriffe an die wahre Stellen zu setzen, darin sie in Ansehung | ||||||
22 | der Erkenntnißvermögen der menschlichen Natur stehen. Man | ||||||
23 | wird sagen, daß dieses eine sehr ernsthafte Sprache sei für eine so gleichgültige | ||||||
24 | Aufgabe, als wir abhandeln, die mehr ein Spielwerk als eine | ||||||
25 | ernstliche Beschäftigung genannt zu werden verdient, und man hat nicht | ||||||
26 | Unrecht so zu urtheilen. Allein ob man zwar über eine Kleinigkeit keine | ||||||
27 | große Zurüstung machen darf, so kann man sie doch gar wohl bei Gelegenheit | ||||||
28 | derselben machen, und die entbehrliche Behutsamkeit beim Entscheiden | ||||||
29 | in Kleinigkeiten kann zum Beispiele in wichtigen Fällen dienen. Ich finde | ||||||
30 | nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit, oder sonst eine vor der Prüfung | ||||||
31 | eingeschlichene Neigung meinem Gemüthe die Lenksamkeit nach allerlei | ||||||
32 | Gründen für oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die | ||||||
33 | Verstandeswage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, | ||||||
34 | der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen | ||||||
35 | Vortheil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige | ||||||
36 | Schale fallen, die Speculationen von an sich größerem Gewichte | ||||||
37 | auf der andern Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, | ||||||
[ Seite 348 ] [ Seite 350 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |