| Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 233 | |||||||
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| 01 | gefallen lassen ohne alle Nachsicht und scharf beurtheilt zu werden; denn | ||||||
| 02 | wer auf Hochachtung pocht, fordert alles um sich zum Tadel auf. Eine | ||||||
| 03 | jede Entdeckung auch des mindesten Fehlers macht jedermann eine wahre | ||||||
| 04 | Freude, und das Wort Närrin verliert hier seine gemilderte Bedeutung. | ||||||
| 05 | Man muß Eitelkeit und Aufgeblasenheit jederzeit unterscheiden. Die | ||||||
| 06 | erstere sucht Beifall und ehrt gewissermaßen diejenige, um deren willen sie | ||||||
| 07 | sich diese Bemühung giebt, die zweite glaubt sich schon in dem völligen | ||||||
| 08 | Besitze desselben, und indem sie keinen zu erwerben bestrebt, so gewinnt | ||||||
| 09 | sie auch keinen. | ||||||
| 10 | Wenn einige Ingredienzien von Eitelkeit ein Frauenzimmer in den | ||||||
| 11 | Augen des männlichen Geschlechts gar nicht verunzieren, so dienen sie doch, | ||||||
| 12 | je sichtbarer sie sind, um desto mehr das schöne Geschlecht unter einander | ||||||
| 13 | zu veruneinigen. Sie beurtheilen einander alsdann sehr scharf, weil eine | ||||||
| 14 | der anderen Reize zu verdunkeln scheint, und es sind auch wirklich diejenige, | ||||||
| 15 | die noch starke Anmaßungen auf Eroberung machen, selten Freundinnen | ||||||
| 16 | von einander im wahren Verstande. | ||||||
| 17 | Dem Schönen ist nichts so sehr entgegengesetzt als der Ekel, so wie | ||||||
| 18 | nichts tiefer unter das Erhabene sinkt als das Lächerliche. Daher kann | ||||||
| 19 | einem Manne kein Schimpf empfindlicher sein, als daß er ein Narr, und | ||||||
| 20 | einem Frauenzimmer, daß sie ekelhaft genannt werde. Der englische Zuschauer | ||||||
| 21 | hält dafür: daß einem Manne kein Vorwurf könne gemacht werden, | ||||||
| 22 | der kränkender sei, als wenn er für einen Lügner, und einem Frauenzimmer | ||||||
| 23 | kein bittrerer, als wenn sie für unkeusch gehalten wird. Ich will | ||||||
| 24 | dieses, in so fern es nach der Strenge der Moral beurtheilt wird, in seinem | ||||||
| 25 | Werthe lassen. Allein hier ist die Frage nicht, was an sich selbst den | ||||||
| 26 | größten Tadel verdiene, sondern was wirklich am allerhärtesten empfunden | ||||||
| 27 | werde. Und da frage ich einen jeden Leser, ob, wenn er sich in Gedanken | ||||||
| 28 | auf diesen Fall setzt, er nicht meiner Meinung beistimmen müsse. | ||||||
| 29 | Die Jungfer Ninon Lenclos machte nicht die mindesten Ansprüche auf die | ||||||
| 30 | Ehre der Keuschheit, und gleichwohl würde sie unerbittlich beleidigt worden | ||||||
| 31 | sein, wenn einer ihrer Liebhaber sich in seinem Urtheile so weit sollte | ||||||
| 32 | vergangen haben: und man weiß das grausame Schicksal des Monaldeschi | ||||||
| 33 | um eines beleidigenden Ausdrucks willen von solcher Art bei einer | ||||||
| 34 | Fürstin, die eben keine Lucretia hat vorstellen wollen. Es ist unausstehlich, | ||||||
| 35 | daß man nicht einmal sollte Böses thun können, wenn man gleich | ||||||
| 36 | wollte, weil auch die Unterlassung desselben alsdann jederzeit nur eine sehr | ||||||
| 37 | zweideutige Tugend ist. | ||||||
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