| Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 112 | |||||||
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| 01 | in so fern sie durch eingepflanzte Gesetze nothwendig sind. Wunder | ||||||
| 02 | werden in einer solchen Ordnung entweder gar nicht oder nur selten nöthig | ||||||
| 03 | sein, weil es nicht füglich sein kann, daß sich solche Unvollkommenheiten | ||||||
| 04 | natürlicher Weise hervorfänden, die ihrer bedürftig wären. | ||||||
| 05 | Wenn ich mir den Begriff von den Dingen der Natur machte, den | ||||||
| 06 | man gemeiniglich von ihnen hat, daß ihre innere Möglichkeit für sich unabhängig | ||||||
| 07 | und ohne einen fremden Grund sei, so würde ich es gar nicht | ||||||
| 08 | unerwartet finden, wenn man sagte, eine Welt von einiger Vollkommenheit | ||||||
| 09 | sei ohne viele übernatürliche Wirkungen unmöglich. Ich würde es | ||||||
| 10 | vielmehr seltsam und unbegreiflich finden, wie ohne eine beständige Reihe | ||||||
| 11 | von Wundern etwas Taugliches durch einen natürlichen großen Zusammenhang | ||||||
| 12 | in ihr sollte geleistet werden können. Denn es müßte ein befremdliches | ||||||
| 13 | Ungefähr sein: daß die Wesen der Dinge, die jegliches für sich seine | ||||||
| 14 | abgesonderte Nothwendigkeit hätten, sich so sollten zusammenschicken, daß | ||||||
| 15 | selbst die höchste Weisheit aus ihnen ein großes Ganze vereinbaren könnte, | ||||||
| 16 | in welchem bei so vielfältiger Abhängigkeit dennoch nach allgemeinen Gesetzen | ||||||
| 17 | unverbesserliche Harmonie und Schönheit hervorleuchtete. Dagegen | ||||||
| 18 | da ich belehrt bin, daß darum nur, weil ein Gott ist, etwas anders möglich | ||||||
| 19 | sei, so erwarte ich selbst von den Möglichkeiten der Dinge eine Zusammenstimmung, | ||||||
| 20 | die ihrem großen Principium gemäß ist, und eine | ||||||
| 21 | Schicklichkeit durch allgemeine Anordnungen zu einem Ganzen zusammen | ||||||
| 22 | zu passen, das mit der Weisheit eben desselben Wesens richtig harmonirt, | ||||||
| 23 | von dem sie ihren Grund entlehnen, und ich finde es sogar wunderbar: | ||||||
| 24 | daß, so fern etwas nach dem Laufe der Natur gemäß allgemeinen Gesetzen | ||||||
| 25 | geschieht, oder geschehen würde, es Gott mißfällig und eines Wunders zur | ||||||
| 26 | Ausbesserung bedürftig sein sollte; und wenn es geschieht, so gehört selbst | ||||||
| 27 | die Veranlassung dazu zu den Dingen, die sich bisweilen zutragen, von | ||||||
| 28 | uns aber nimmermehr können begriffen werden. | ||||||
| 29 | Man wird es auch ohne Schwierigkeit verstehen, daß, wenn man den | ||||||
| 30 | wesentlichen Grund einsieht, weswegen Wunder zur Vollkommenheit der | ||||||
| 31 | Welt selten nöthig sein können, dieses auch von denjenigen gelte, die wir | ||||||
| 32 | in der vorigen Betrachtung übernatürliche Begebenheiten im formalen | ||||||
| 33 | Verstande genannt haben, und die man in gemeinen Urtheilen darum | ||||||
| 34 | sehr häufig einräumt, weil man durch einen verkehrten Begriff darin | ||||||
| 35 | etwas Natürliches zu finden glaubt. | ||||||
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