Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 095 |
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| 01 | Das Feld, darauf ich Denkwürdigkeiten sammle, ist davon so voll, | ||||||
| 02 | daß, ohne einen Fuß weiter setzen zu dürfen, sich auf derselben Stelle, da | ||||||
| 03 | wir uns befinden, noch unzählige Schönheiten darbieten. Es giebt Auflösungen | ||||||
| 04 | der Geometrie, wo dasjenige, was nur durch weitläuftige Veranstaltung | ||||||
| 05 | scheint möglich zu sein, sich gleichsam ohne alle Kunst in der | ||||||
| 06 | Sache selbst darlegt. Diese werden von jedermann als artig empfunden | ||||||
| 07 | und dieses um desto mehr, je weniger man selbst zu thun hat, und | ||||||
| 08 | je verwickelter gleichwohl die Auflösung zu sein scheint. Der Cirkelring | ||||||
| 09 | zwischen zwei Kreisen, die einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt haben, hat | ||||||
| 10 | eine von einer Cirkelfläche sehr verschiedene Gestalt, und es kommt jedermann | ||||||
| 11 | anfänglich als mühsam und künstlich vor, ihn in diese Figur zu verwandeln. | ||||||
| 12 | Allein so bald ich einsehe, daß die den inwendigen Cirkel berührende | ||||||
| 13 | Linie, so weit gezogen, bis sie zu beiden Seiten den Umkreis des | ||||||
| 14 | größern schneidet, der Durchmesser des Cirkels sei, dessen Fläche dem | ||||||
| 15 | Inhalt des Cirkelringes gerade gleich ist, so kann ich nicht umhin einige | ||||||
| 16 | Befremdung über die einfältige Art zu äußern, wie das Gesuchte in der | ||||||
| 17 | Natur der Sache selbst sich so leicht offenbart, und meiner Bemühung hiebei | ||||||
| 18 | fast nichts beizumessen ist. | ||||||
| 19 | Wir haben, um in den nothwendigen Eigenschaften des Raums Einheit | ||||||
| 20 | bei der größten Mannigfaltigkeit und Zusammenhang in dem, was | ||||||
| 21 | eine von dem andern ganz abgesonderte Nothwendigkeit zu haben scheint, | ||||||
| 22 | zu bemerken, nur blos unsere Augen auf die Cirkelfigur gerichtet, welche | ||||||
| 23 | deren noch unendliche hat, davon ein kleiner Theil bekannt ist. Hieraus | ||||||
| 24 | läßt sich abnehmen, welche Unermeßlichkeit solcher harmonischen Beziehungen | ||||||
| 25 | sonst in den Eigenschaften des Raums liege, deren viele die | ||||||
| 26 | höhere Geometrie in den Verwandtschaften der verschiedenen Geschlechter | ||||||
| 27 | der krummen Linien darlegt, und alle außer der Übung des Verstandes | ||||||
| 28 | durch die denkliche Einsicht derselben das Gefühl auf eine ähnliche oder | ||||||
| 29 | erhabnere Art wie die zufällige Schönheiten der Natur rühren. | ||||||
| 30 | Wenn man bei dergleichen Anordnungen der Natur berechtigt ist nach | ||||||
| 31 | einem Grunde einer so weit erstreckten Übereinstimmung des Mannigfaltigen | ||||||
| 32 | zu fragen, soll man es denn weniger sein bei Wahrnehmung des | ||||||
| 33 | Ebenmaßes und der Einheit in den unendlich vielfältigen Bestimmungen | ||||||
| 34 | des Raums? Ist diese Harmonie darum weniger befremdlich, weil sie | ||||||
| 35 | nothwendig ist? Ich halte dafür, sie sei es darum nur desto mehr. Und | ||||||
| 36 | weil dasjenige Viele, davon jedes seine besondere und unabhängige Nothwendigkeit | ||||||
| 37 | hätte, nimmermehr Ordnung, Wohlgereimtheit und Einheit in | ||||||
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