Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 094 |
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01 | Allein ich finde gar keine Veranlassung unter einer so einfältigen Construction | ||||||
02 | sehr viel Mannigfaltiges zu vermuthen, das eben dadurch großen | ||||||
03 | Regeln der Ordnung unterworfen sei. Indessen entdecke ich, daß alle | ||||||
04 | gerade Linien, die einander aus einem beliebigen Punkt innerhalb dem | ||||||
05 | Cirkel durchkreuzen, indem sie an den Umkreis stoßen, jederzeit in geometrischer | ||||||
06 | Proportion geschnitten sind; imgleichen daß alle diejenige, die | ||||||
07 | von einem Punkt außerhalb dem Kreise diesen durchschneiden, jederzeit in | ||||||
08 | solche Stücke zerlegt werden, die sich umgekehrt verhalten wie ihre Ganzen. | ||||||
09 | Wenn man bedenkt, wie unendlich viel verschiedene Lagen diese Linien annehmen | ||||||
10 | können, indem sie den Cirkel wie gedacht durchschneiden, und wahrnimmt, | ||||||
11 | wie sie gleichwohl beständig unter dem nämlichen Gesetze stehen, | ||||||
12 | von dem sie nicht abweichen können, so ist es unerachtet dessen, daß die | ||||||
13 | Wahrheit davon leicht begriffen wird, dennoch etwas Unerwartetes, daß | ||||||
14 | so wenig Anstalt in der Beschreibung dieser Figur und gleichwohl so viel | ||||||
15 | Ordnung und in dem Mannigfaltigen eine so vollkommene Einheit daraus | ||||||
16 | erfolgt. | ||||||
17 | Wenn aufgegeben wäre, daß schiefe Flächen in verschiedenen Neigungen | ||||||
18 | gegen den Horizont, doch von solcher Länge angeordnet würden, | ||||||
19 | damit frei herabrollende Körper darauf gerade in gleicher Zeit herab | ||||||
20 | kämen, so wird ein jeder, der die mechanische Gesetze versteht, einsehen, | ||||||
21 | daß hiezu mancherlei Veranstaltung gehöre. Nun findet sich aber diese | ||||||
22 | Einrichtung im Cirkel von selber mit unendlich viel Abwechselung der | ||||||
23 | Stellungen und doch in jedem Falle mit der größten Richtigkeit. Denn | ||||||
24 | alle Sehnen, die an den Vertikaldurchmesser stoßen, sie mögen von dessen | ||||||
25 | obersten oder untersten Punkte ausgehen, nach welchen Neigungen man | ||||||
26 | auch will, haben insgesammt das gemein: daß der freie Fall durch dieselbe | ||||||
27 | in gleichen Zeiten geschieht. Ich erinnere mich, daß ein verständiger Lehrling, | ||||||
28 | als ihm dieser Satz mit seinem Beweise von mir vorgetragen wurde, | ||||||
29 | nachdem er alles wohl verstand, dadurch nicht weniger, wie durch ein | ||||||
30 | Naturwunder gerührt wurde. Und in der That wird man durch eine so | ||||||
31 | sonderbare Vereinigung von Mannigfaltigen nach so fruchtbaren Regeln | ||||||
32 | in einer so schlecht und einfältig scheinenden Sache, als ein Cirkelkreis ist, | ||||||
33 | überrascht und mit Recht in Bewunderung gesetzt. Es ist auch kein | ||||||
34 | Wunder der Natur, welches durch die Schönheit oder Ordnung, die darin | ||||||
35 | herrscht, mehr Ursache zum Erstaunen gäbe, es müßte denn sein, daß es | ||||||
36 | deswegen geschähe, weil die Ursache derselben da nicht so deutlich einzusehen | ||||||
37 | ist, und die Bewunderung eine Tochter der Unwissenheit ist. | ||||||
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