Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 090

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 werden muß, und warum wir ihn nicht haben aus den Augen setzen      
  02 können.      
           
  03 Ich habe in dem ganzen Zusammenhange aller bisher vorgetragenen      
  04 zu meinem Beweise gehörigen Gründe nirgend des Ausdrucks von Vollkommenheit      
  05 gedacht. Nicht als wenn ich dafür hielte, alle Realität sei      
  06 schon so viel wie alle Vollkommenheit, oder auch die größte Zusammenstimmung      
  07 zu Einem mache sie aus. Ich habe wichtige Ursachen von diesem      
  08 Urtheile vieler andern sehr abzugehen. Nachdem ich lange Zeit über den      
  09 Begriff der Vollkommenheit insgemein oder insbesondere sorgfältige      
  10 Untersuchungen angestellt habe, so bin ich belehrt worden, daß in einer      
  11 genauern Kenntniß derselben überaus viel verborgen liege, was die Natur      
  12 eines Geistes, unser eigen Gefühl und selbst die ersten Begriffe der praktischen      
  13 Weltweisheit aufklären kann.      
           
  14 Ich bin inne geworden, daß der Ausdruck der Vollkommenheit zwar      
  15 in einigen Fällen, nach der Unsicherheit jeder Sprache Ausartungen von      
  16 dem eigenthümlichen Sinne leide, die ziemlich weit abweichen, daß er aber      
  17 in der Bedeutung, darauf hauptsächlich jedermann selbst bei jenen Abirrungen      
  18 acht hat, allemal eine Beziehung auf ein Wesen, welches Erkenntniß      
  19 und Begierde hat, voraussetze. Da es nun viel zu weitläuftig geworden      
  20 sein würde, den Beweisgrund von Gott, und der ihm beiwohnenden Realität      
  21 bis zu dieser Beziehung hindurch zu führen, ob es zwar vermöge dessen,      
  22 was zum Grunde liegt, gar wohl thunlich gewesen wäre, so habe ich es      
  23 der Absicht dieser Blätter nicht gemäß befunden, durch die Herbeiziehung      
  24 dieses Begriffs Anlaß zu einer allzugroßen Weitläuftigkeit zu geben.      
           
  25
4.
     
  26
Beschluß.
     
           
  27 Ein jeder wird sehr leicht nach dem wie gedacht geführten Beweise so      
  28 offenbare Folgerungen hinzufügen können, als da sind: Ich, der ich denke,      
  29 bin kein so schlechterdings nothwendiges Wesen, denn ich bin nicht der      
  30 Grund aller Realität, ich bin veränderlich; kein ander Wesen, dessen Nichtsein      
  31 möglich ist, das ist, dessen Aufhebung nicht zugleich alle Möglichkeit      
  32 aufhebt, kein veränderliches Ding oder in welchem Schranken sind, mithin      
  33 auch nicht die Welt ist von einer solchen Natur; die Welt ist nicht ein      
  34 Accidens der Gottheit, weil in ihr Widerstreit, Mängel, Veränderlichkeit,      
  35 alles Gegentheile der Bestimmungen einer Gottheit angetroffen werden;      
           
     

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