Kant: AA II, Der einzig mögliche ... , Seite 072 |
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Text (Kant):
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| 01 | 1. |
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| 02 | Das Dasein ist gar kein Prädicat oder Determination von |
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| 03 | irgend einem Dinge. |
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| 04 | Dieser Satz scheint seltsam und widersinnig, allein er ist ungezweifelt | ||||||
| 05 | gewiß. Nehmet ein Subject, welches ihr wollt, z. E. den Julius Cäsar. | ||||||
| 06 | Fasset alle seine erdenkliche Prädicate, selbst die der Zeit und des Orts | ||||||
| 07 | nicht ausgenommen, in ihm zusammen, so werdet ihr bald begreifen, daß | ||||||
| 08 | er mit allen diesen Bestimmungen existiren, oder auch nicht existiren kann. | ||||||
| 09 | Das Wesen, welches dieser Welt und diesem Helden in derselben das Dasein | ||||||
| 10 | gab, konnte alle diese Prädicate, nicht ein einiges ausgenommen, erkennen | ||||||
| 11 | und ihn doch als ein blos möglich Ding ansehen, das, seinen Rathschluß | ||||||
| 12 | ausgenommen, nicht existirt. Wer kann in Abrede ziehen, daß | ||||||
| 13 | Millionen von Dingen, die wirklich nicht dasind, nach allen Prädicaten, | ||||||
| 14 | die sie enthalten würden, wenn sie existirten, blos möglich seien; daß in | ||||||
| 15 | der Vorstellung, die das höchste Wesen von ihnen hat, nicht eine einzige | ||||||
| 16 | Bestimmung ermangele, obgleich das Dasein nicht mit darunter ist, denn | ||||||
| 17 | es erkennt sie nur als mögliche Dinge. Es kann also nicht statt finden, | ||||||
| 18 | daß, wenn sie existiren, sie ein Prädicat mehr enthielten, denn bei der | ||||||
| 19 | Möglichkeit eines Dinges nach seiner durchgängigen Bestimmung kann | ||||||
| 20 | gar kein Prädicat fehlen. Und wenn es Gott gefallen hätte, eine andere | ||||||
| 21 | Reihe der Dinge, eine andere Welt zu schaffen, so würde sie mit allen | ||||||
| 22 | den Bestimmungen und keinen mehr existirt haben, die er an ihr doch | ||||||
| 23 | erkennt, ob sie gleich blos möglich ist. | ||||||
| 24 | Gleichwohl bedient man sich des Ausdrucks vom Dasein als eines | ||||||
| 25 | Prädicats, und man kann dieses auch sicher und ohne besorgliche Irrthümer | ||||||
| 26 | thun, so lange man es nicht darauf aussetzt, das Dasein aus blos | ||||||
| 27 | möglichen Begriffen herleiten zu wollen, wie man zu thun pflegt, wenn | ||||||
| 28 | man die absolut nothwendige Existenz beweisen will. Denn alsdann sucht | ||||||
| 29 | man umsonst unter den Prädicaten eines solchen möglichen Wesens, das | ||||||
| 30 | Dasein findet sich gewiß nicht darunter. Es ist aber das Dasein in den | ||||||
| 31 | Fällen, da es im gemeinen Redegebrauch als ein Prädicat vorkommt, nicht | ||||||
| 32 | sowohl ein Prädicat von dem Dinge selbst, als vielmehr von dem Gedanken, | ||||||
| 33 | den man davon hat. Z. E. dem Seeeinhorn kommt die Existenz | ||||||
| 34 | zu, dem Landeinhorn nicht. Es will dieses nichts anders sagen, als: die | ||||||
| 35 | Vorstellung des Seeeinhorns ist ein Erfahrungsbegriff, das ist, die Vorstellung | ||||||
| 36 | eines existirenden Dinges. Daher man auch, um die Richtigkeit | ||||||
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