Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 302

   
         
 

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  01 werden, oder auch standesmäßig sich dazu nur qualificiren, nicht    
  02 blos in ihren Manieren, sondern auch in dem Ausdruck des Gesichts etwas    
  03 Gemeines zeigen. Denn da sie in ihrem Wirkungskreise sich ungenirt    
  04 fühlten, indem sie es fast nur allein mit ihren Untergebenen zu thun hatten,    
  05 so bekamen die Gesichtsmuskeln nicht die Biegsamkeit, in allen Verhältnissen,    
  06 gegen Höhere, Geringere und Gleiche, das ihrem Umgange und    
  07 den damit verbundenen Affecten angemessene Mienenspiel zu cultiviren,    
  08 welches, ohne sich etwas zu vergeben, zur guten Aufnahme in der Gesellschaft    
  09 erfordert wird. Dagegen die in städtischen Manieren geübten Menschen    
  10 von gleichem Rang, indem sie sich bewußt sind, hierin über Andere    
  11 eine Überlegenheit zu haben, dieses Bewußtsein, wenn es durch lange    
  12 Übung habituell wird, mit bleibenden Zügen in ihrem Gesichte abdrücken.    
         
  13 Devote, wenn sie lange in den mechanischen Andachtsübungen disciplinirt    
  14 und gleichsam darin erstarrt sind, bringen bei einer machthabenden    
  15 Religion oder Cultus in ein ganzes Volk Nationalzüge innerhalb der    
  16 Grenzen derselben hinein, welche sie selbst physiognomisch charakterisiren.    
  17 So spricht Herr Fr. Nicolai von fatalen gebenedeieten Gesichtern in    
  18 Bayern; dagegen John Bull im Altengland die Freiheit unhöflich zu    
  19 sein, wohin er kommen mag, in der Fremde oder gegen den Fremden in    
  20 seinem eigenen Lande, schon in seinem Gesichte bei sich führt. Es giebt    
  21 also auch eine Nationalphysiognomie, ohne daß diese eben für angeboren    
  22 gelten darf. - Es giebt charakteristische Auszeichnungen in Gesellschaften,    
  23 die das Gesetz zur Strafe zusammengebracht hat. Von den Gefangenen    
  24 in Rasphuis in Amsterdam, in Bicêtre in Paris und in Newgate in    
  25 London merkt ein geschickter reisender deutscher Arzt an: daß es doch mehrentheils    
  26 knochichte und sich ihrer Überlegenheit bewußte Kerle waren;    
  27 von keinem aber wird es erlaubt sein mit dem Schauspieler Quin zu    
  28 sagen: "Wenn dieser Kerl nicht ein Schelm ist, so schreibt der Schöpfer    
  29 keine leserliche Hand." Denn um so gewaltsam abzusprechen, dazu würde    
  30 mehr Unterscheidungsvermögen des Spiels, welches die Natur mit den    
  31 Formen ihrer Bildung treibt, um blos Mannigfaltigkeit der Temperamente    
  32 hervorzubringen, von dem, was sie hierin für die Moral thut oder    
  33 nicht thut, gehören, als wohl irgend ein Sterblicher zu besitzen sich anmaßen    
  34 darf.    
         
         
     

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