Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 301 |
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01 | Die Auslegungskunst der Mienen, welche unvorsetzlich das Innere | ||||||
02 | verrathen, aber doch hiebei vorsetzlich lügen, kann zu vielen artigen Bemerkungen | ||||||
03 | Anlaß geben, wovon ich nur Einer Erwägung thun will. | ||||||
04 | Wenn jemand, der sonst nicht schielt, indem er erzählt, sich auf die Spitze | ||||||
05 | seiner Nase sieht und so schielt, so ist das, was er erzählt, jederzeit gelogen. | ||||||
06 | - Man muß aber ja nicht den gebrechlichen Augenzustand eines Schielenden | ||||||
07 | dahin zählen, der von diesem Laster ganz frei sein kann. | ||||||
08 | Sonst giebt es von der Natur constituirte Geberdungen, durch welche | ||||||
09 | sich Menschen von allen Gattungen und Klimaten einander auch ohne | ||||||
10 | Abrede verstehen. Dahin gehört das Kopfnicken (im Bejahen), das | ||||||
11 | Kopfschütteln (im Verneinen), das Kopfaufwerfen (im Trotzen), das | ||||||
12 | Kopfwackeln (in der Verwunderung), das Naserümpfen (im Spott), | ||||||
13 | des Spöttrisch=Lächeln (Grinsen), ein langes Gesicht machen (bei | ||||||
14 | Abweisung des Verlangten), das Stirnrunzeln (im Verdruß), das | ||||||
15 | schnelle Maulaufsperren und =zuschließen (Bah), das zu sich hin | ||||||
16 | und von sich weg Winken mit Händen, das Hände über den Kopf | ||||||
17 | zusammen schlagen (im Erstaunen), das Faustballen (im Drohen), | ||||||
18 | das Verbeugen, das Fingerlegen auf den Mund ( compescere labella ), | ||||||
19 | um Verschwiegenheit zu gebieten, das Auszischen u. d. g. | ||||||
20 | Zerstreute Anmerkungen. |
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21 | Oft wiederholte, die Gemüthsbewegung auch unwillkürlich begleitende | ||||||
22 | Mienen werden nach und nach stehende Gesichtszüge, welche aber im Sterben | ||||||
23 | verschwinden; daher, wie Lavater anmerkt, das im Leben den Bösewicht | ||||||
24 | verrathende abschreckende Gesicht sich im Tode (negativ) gleichsam | ||||||
25 | veredelt: weil nun, da alle Muskeln nachlassen, gleichsam der Ausdruck | ||||||
26 | der Ruhe, welche unschuldig ist, übrig bleibt. - So kann es auch kommen, | ||||||
27 | daß ein Mann, der seine Jugend unverführt zurückgelegt hatte, in spätern | ||||||
28 | Jahren bei aller Gesundheit doch durch Lüderlichkeit ein ander Gesicht bekommt; | ||||||
29 | aus welchem aber auf seine Naturanlage nicht zu schließen ist. | ||||||
30 | Man spricht auch von gemeinem Gesicht im Gegensatz mit dem vornehmen. | ||||||
31 | Das letzte bedeutet nichts weiter als eine angemaßte Wichtigkeit, | ||||||
32 | mit höfischer Manier der Einschmeichelung verbunden: welche nur in großen | ||||||
33 | Städten gedeiht, da sich Menschen an einander reiben und ihre Rauhigkeit | ||||||
34 | abschleifen. Daher Beamte, auf dem Lande geboren und erzogen, | ||||||
35 | wenn sie mit ihrer Familie zu städtischen ansehnlichen Bedienungen erhoben | ||||||
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