Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 298

   
         
 

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  01 doch jene ernste Perpendicularität des Profils in ihrem Gesichte nicht,    
  02 welches jene Idealität in Ansehung der Kunstwerke als Urbilder zu beweisen    
  03 scheint. - Nach diesen mythologischen Mustern kommen die Augen    
  04 tiefer zu liegen und werden an der Nasenwurzel etwas in Schatten gestellt;    
  05 dagegen man die für schön gehaltenen Gesichter der Menschen jetziger    
  06 Zeiten mit einem kleinen Absprung der Nase von der Richtung der    
  07 Stirn (Einbucht an der Nasenwurzel) schöner findet.    
         
  08 Wenn wir über Menschen, so wie sie wirklich sind, unseren Beobachtungen    
  09 nachgehen, so zeigt sich: daß eine genau abgemessene Regelmäßigkeit    
  10 gemeiniglich einen sehr ordinären Menschen, der ohne Geist    
  11 ist, anzeige. Das Mittelmaß scheint das Grundmaß und die Basis der    
  12 Schönheit, aber lange noch nicht die Schönheit selbst zu sein, weil zu dieser    
  13 etwas Charakteristisches erfordert wird. - Man kann aber dieses Charakteristische    
  14 auch ohne Schönheit in einem Gesichte antreffen, worin der    
  15 Ausdruck ihm doch, obgleich in anderer (vielleicht moralischen oder    
  16 ästhetischen) Beziehung, sehr zum Vortheil spricht; d. i. an einem Gesichte    
  17 bald hier, bald da an Stirn, Nase, Kinn oder Farbe des Haares u. s. w.    
  18 tadeln, dennoch aber gestehen, daß für die Individualität der Person es    
  19 doch empfehlender sei, als wenn die Regelmäßigkeit vollkommen wäre:    
  20 weil diese gemeinhin auch Charakterlosigkeit bei sich führt.    
         
  21 Häßlichkeit aber soll man keinem Gesichte vorrücken, wenn es nur    
  22 in seinen Zügen nicht den Ausdruck eines durch Laster verdorbenen Gemüths,    
  23 oder auch einen natürlichen, aber unglücklichen Hang dazu verräth:    
  24 z. B. einen gewissen Zug des hämisch Lächlenden, sobald er spricht, oder    
  25 auch der Dummdreustigkeit ohne mildernde Sanftheit im Anblick dem    
  26 Anderen ins Gesicht zu schauen und dadurch zu äußeren, daß man sich    
  27 aus jenes seinem Urtheile nichts mache. - Es giebt Männer, deren Gesicht    
  28 (wie der Franzose spricht) rebarbaratif ist, mit denen man, wie    
  29 man sagt, Kinder zu Bett jagen kann, oder die ein von Pocken zerrissenes    
  30 und groteskes, oder, wie der Holländer es nennt, wanschapenes (gleichsam    
  31 im Wahn, im Traume, gedachtes) Gesicht haben; aber doch zugleich    
  32 so viel Gutmüthigkeit und Frohsinn zeigen, daß sie über ihr eigenes Gesicht    
  33 ihren Spaß treiben, das daher keineswegs häßlich genannt werden    
  34 darf, ob sie es wohl gar nicht übel nehmen, wenn eine Dame von ihnen    
  35 (wie von dem Pelisson bei der academie francaise ) sagt: "Pelisson mißbraucht    
  36 die Erlaubniß, die die Männer haben, häßlich zu sein." Noch    
  37 ärger und dummer ist es: wenn ein Mensch, von dem man Sitten erwarten    
         
     

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