Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 297 |
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01 | der Naturanlagen in beiden schließen sollten, längst vergessen, | ||||||
02 | Lavaters weitläuftige, durch Silhouetten zu einer eine Zeit lang allgemein | ||||||
03 | beliebten und wohlfeilen Waare gewordene Verbreitung dieses Geschmacks | ||||||
04 | aber neuerdings ganz verlassen worden; - nachdem fast nichts | ||||||
05 | mehr, als etwa die doch zweideutige Bemerkung (des Hrn. v. Archenholz) | ||||||
06 | übrig geblieben ist: daß das Gesicht eines Menschen, das man durch eine | ||||||
07 | Grimasse für sich allein nachahmt, auch zugleich gewisse Gedanken oder | ||||||
08 | Empfindungen rege mache, die mit dem Charakter desselben übereinstimmen, | ||||||
09 | - so ist die Physiognomik, als Ausspähungskunst des Innern im | ||||||
10 | Menschen vermittelst gewisser äußerer unwillkürlich gegebener Zeichen, | ||||||
11 | ganz aus der Nachfrage gekommen und nichts von ihr übrig geblieben, | ||||||
12 | als die Kunst der Cultur des Geschmacks und zwar nicht an Sachen, sondern | ||||||
13 | an Sitten, Manieren und Gebräuchen, um durch eine Kritik, welche | ||||||
14 | dem Umgange mit Menschen und der Menschenkenntniß überhaupt beförderlich | ||||||
15 | wäre, dieser zu Hülfe zu kommen. | ||||||
16 | Eintheilung der Physiognomik. |
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17 | Von dem Charakteristischen 1. in der Gesichtsbildung, 2. in den | ||||||
18 | Gesichtszügen, 3. in der habituellen Gesichtsgeberdung (den | ||||||
19 | Mienen). | ||||||
20 | A. |
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21 | Von der Gesichtsbildung. |
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22 | Es ist merkwürdig: daß die griechischen Künstler auch ein Ideal der | ||||||
23 | Gesichtsbildung (für Götter und Heroen) im Kopfe hatten, welches immerwährende | ||||||
24 | Jugend und zugleich von allen Affecten freie Ruhe - in Statüen | ||||||
25 | Cameen und Intaglios -, ohne einen Reiz hineinzulegen, ausdrücken | ||||||
26 | sollte. - Das griechische perpendiculäre Profil macht die | ||||||
27 | Augen tiefer liegend, als es nach unserem Geschmack (der auf den Reiz | ||||||
28 | angelegt ist) sein sollte, und selbst eine mediceische Venus entbehrt desselben. | ||||||
29 | - Die Ursache davon mag sein: daß, da das Ideal eine bestimmte, | ||||||
30 | unabänderliche Norm sein soll, eine aus dem Gesicht von der Stirn in einem | ||||||
31 | Winkel abspringende Nase (wo dann der Winkel größer oder kleiner sein | ||||||
32 | kann) keine bestimmte Regel der Gestalt, wie es doch das, was zur | ||||||
33 | Norm gehört, erfordert, - abgeben würde. Auch haben die neueren Griechen | ||||||
34 | unerachtet ihrer sonst dem übrigen Körperbau nach schönen Bildung | ||||||
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