Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 279

   
         
 

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  01 der immer Cultur bei sich führen muß, wo immer Einer    
  02 mit Allen (nicht blos mit seinem Nachbar) spricht: da hingegen die sogenannten    
  03 festlichen Tractamente (Gelag und Abfütterung) ganz geschmacklos    
  04 sind. Es versteht sich hiebei von selbst, daß in allen Tischgesellschaften,    
  05 selbst denen an einer Wirthstafel das, was daselbst von einem    
  06 indiscreten Tischgenossen zum Nachtheil eines Abwesenden öffentlich gesprochen    
  07 wird, dennoch nicht zum Gebrauch außer dieser Gesellschaft gehöre    
  08 und nachgeplaudert werden dürfe. Denn ein jedes Symposium hat    
  09 auch ohne einen besonderen dazu getroffenen Vertrag eine gewisse Heiligkeit    
  10 und Pflicht zur Verschwiegenheit bei sich in Ansehung dessen, was dem    
  11 Mitgenossen der Tischgesellschaft nachher Ungelegenheit außer derselben    
  12 verursachen könnte: weil ohne dieses Vertrauen das der moralischen Cultur    
  13 selbst so zuträgliche Vergnügen in Gesellschaft und selbst diese Gesellschaft    
  14 zu genießen vernichtet werden würde. - Daher würde ich, wenn    
  15 von meinem besten Freunde in einer sogenannten öffentlichen Gesellschaft    
  16 (denn eigentlich ist eine noch so große Tischgesellschaft immer    
  17 nur Privatgesellschaft, und nur die staatsbürgerliche überhaupt in der    
  18 Idee ist öffentlich) - ich würde, sage ich, wenn von ihm etwas Nachtheiliges    
  19 gesprochen würde, ihn zwar vertheidigen und allenfalls auf meine    
  20 eigene Gefahr mit Härte und Bitterkeit des Ausdrucks mich seiner annehmen,    
  21 mich aber nicht zum Werkzeuge brauchen lassen, diese üble Nachrede    
  22 zu verbreiten und an den Mann zu tragen, den sie angeht. - Es ist    
  23 nicht blos ein geselliger Geschmack, der die Conversation leiten muß,    
  24 sondern es sind auch Grundsätze, die dem offenen Verkehr der Menschen    
  25 mit ihren Gedanken im Umgange zur einschränkenden Bedingung ihrer    
  26 Freiheit dienen sollen.    
         
  27 Hier ist etwas Analogisches im Vertrauen zwischen Menschen, die    
  28 mit einander an einem Tische speisen, mit alten Gebräuchen z. B. des    
  29 Arabers, bei dem der Fremde, sobald er jenem nur einen Genuß (einen    
  30 Trunk Wasser) in seinem Zelt hat ablocken können, auch auf seine Sicherheit    
  31 rechnen kann; oder wenn der russischen Kaiserin Salz und Brod    
  32 von den aus Moskau ihr entgegenkommenden Deputirten gereicht wurde,    
  33 und sie durch den Genuß desselben sich auch vor aller Nachstellung durchs    
  34 Gastrecht gesichert halten konnte. - Das Zusammenspeisen an einem    
  35 Tische wird aber als die Förmlichkeit eines solchen Vertrags der Sicherheit    
  36 angesehen.    
         
  37 Allein zu essen ( solipsismus convictorii ) ist für einen philosophirenden    
         
     

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