Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 233 |
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01 | den wird allenfalls ein negativer, die lange Weile, als Leere an Empfindung, | ||||||
02 | die der an den Wechsel derselben gewöhnte Mensch in sich wahrnimmt, | ||||||
03 | indem er den Lebenstrieb doch womit auszufüllen bestrebt ist, oft | ||||||
04 | dermaßen afficiren, daß er eher etwas zu seinem Schaden, als gar nichts | ||||||
05 | zu thun sich angetrieben fühlt. | ||||||
06 | Von der langen Weile und dem Kurzweil. |
[ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 254)] | |||||
07 | § 61. Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts anders als: | ||||||
08 | sich continuirlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen | ||||||
09 | (der also ein eben so oft wiederkommender Schmerz sein muß). | ||||||
10 | Hieraus erklärt sich auch die drückende, ja ängstliche Beschwerlichkeit der | ||||||
11 | langen Weile für Alle, welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam | ||||||
12 | sind (cultivirte Menschen).*) Dieser Druck oder Antrieb, jeden Zeitpunkt, | ||||||
13 | darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen, ist accelerirend | ||||||
14 | und kann bis zur Entschließung wachsen, seinem Leben ein Ende zu | ||||||
15 | machen, weil der üppige Mensch den Genuß aller Art versucht hat, und | ||||||
16 | keiner für ihn mehr neu ist; wie man in Paris vom Lord Mordaunt sagte: | ||||||
17 | "Die Engländer erhenken sich, um sich die Zeit zu passiren." - - Die | ||||||
18 | in sich wahrgenommene Leere an Empfindungen erregt ein Grauen ( horror | ||||||
19 | vacui ) und gleichsam das Vorgefühl eines langsamen Todes, der für peinlicher | ||||||
20 | gehalten wird, als wenn das Schicksal den Lebensfaden schnell | ||||||
21 | abreißt. | ||||||
22 | Hieraus erklärt sich auch, warum Zeitverkürzungen mit Vergnügen | ||||||
23 | für einerlei genommen werden: weil, je schneller wir über die Zeit wegkommen, | ||||||
24 | wir uns desto erquickter fühlen; wie eine Gesellschaft, die sich auf | ||||||
25 | einer Lustreise im Wagen drei Stunden lang mit Gesprächen wohl unterhalten | ||||||
*) Der Caraibe ist durch seine angeborne Leblosigkeit von dieser Beschwerlichkeit frei. Er kann stundenlang mit seiner Angelruthe sitzen, ohne etwas zu fangen; die Gedankenlosigkeit ist ein Mangel des Stachels der Thätigkeit, der immer einen Schmerz bei sich führt, und dessen jener überhoben ist. - Unsere Lesewelt von verfeinertem Geschmack wird durch ephemerische Schriften immer im Appetit, selbst im Heißhunger zur Leserei (eine Art von Nichtsthun) erhalten, nicht um sich zu cultiviren, sondern zu genießen; so daß die Köpfe dabei immer leer bleiben und keine Übersättigung zu besorgen ist; indem sie ihrem geschäftigen Müßiggange den Anstrich einer Arbeit geben und sich in demselben einen würdigen Zeitaufwand vorspiegeln, der doch um nichts besser ist als jener, welchen das Journal des Luxus und der Moden dem Publicum anbietet. | |||||||
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