Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 214 |
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01 | Beurtheilungsvermögens gewesen sei, ist gänzlich psychologisch, und obgleich | ||||||
02 | körperliche Verschrobenheit der Seelenorganen vielleicht wohl bisweilen | ||||||
03 | die Ursache einer unnatürlichen Übertretung des (jedem Menschen | ||||||
04 | beiwohnenden) Pflichtgesetzes sein möchte, so sind die Ärzte und Physiologen | ||||||
05 | überhaupt doch nicht so weit, um das Maschinenwesen im Menschen | ||||||
06 | so tief einzusehen, daß sie die Anwandlung zu einer solchen Gräuelthat | ||||||
07 | daraus erklären, oder (ohne Anatomie des Körpers) sie vorher sehen | ||||||
08 | könnten; und eine gerichtliche Arzneikunde ( medicina forensis ) ist | ||||||
09 | - wenn es auf die Frage ankommt: ob der Gemüthszustand des Thäters | ||||||
10 | Verrückung, oder mit gesundem Verstande genommene Entschließung gewesen | ||||||
11 | sei - Einmischung in fremdes Geschäfte, wovon der Richter nichts | ||||||
12 | versteht, wenigstens es, als zu seinem Forum nicht gehörend, an eine andere | ||||||
13 | Facultät verweisen muß*). | ||||||
14 | § 52. Es ist schwer eine systematische Eintheilung in das zu bringen, | ||||||
15 | was wesentliche und unheilbare Unordnung ist. Es hat auch wenig Nutzen | ||||||
16 | sich damit zu befassen: weil, da die Kräfte des Subjects dahin nicht mitwirken | ||||||
17 | (wie es wohl bei körperlichen Krankheiten der Fall ist), und doch | ||||||
18 | nur durch den eigenen Verstandesgebrauch dieser Zweck erreicht werden | ||||||
19 | kann, alle Heilmethode in dieser Absicht fruchtlos ausfallen muß. Indessen | ||||||
20 | fordert doch die Anthropologie, obgleich sie hiebei nur indirect pragmatisch | ||||||
21 | sein kann, nämlich nur Unterlassungen zu gebieten, wenigstens einen allgemeinen | ||||||
22 | Abriß dieser tiefsten, aber von der Natur herrührenden Erniedrigung | ||||||
23 | der Menschheit zu versuchen. Man kann die Verrückung überhaupt | ||||||
24 | in die tumultuarische, methodische und systematische eintheilen. | ||||||
25 | 1) Unsinnigkeit ( amentia ) ist das Unvermögen, seine Vorstellungen | ||||||
26 | auch nur in den zur Möglichkeit der Erfahrung nöthigen Zusammenhang | ||||||
27 | zu bringen. In den Tollhäusern ist das weibliche Geschlecht seiner | ||||||
*) So erklärte ein solcher Richter in dem Falle, da eine Person, weil sie zum Zuchthause verurtheilt war, aus Verzweiflung ein Kind umbrachte, diese für verrückt und so für frei von der Todesstrafe. - Denn, sagte er: wer aus falschen Prämissen wahre Schlüsse folgert, ist verrückt. Nun nahm jene Person es als Grundsatz an: daß die Zuchthausstrafe eine unauslöschliche Entehrung sei, die ärger ist als der Tod (welches doch falsch ist), und kam durch den Schluß daraus auf den Vorsatz, sich den Tod zu verdienen. - Folglich war sie verrückt und, als eine solche, der Todesstrafe zu überheben. - Auf den Fuß dieses Arguments möchte es wohl leicht sein, alle Verbrecher für Verrückte zu erklären, die man bedauren und curiren, aber nicht bestrafen müßte. | |||||||
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