Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 213 |
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01 | auch nicht anders als ein Kind (mit Pillen aus Brotkrumen statt Arzneimitteln) | ||||||
02 | beruhigen kann; und wenn dieser Patient, der vor immerwährendem | ||||||
03 | Kränkeln nie krank werden kann, medicinische Bücher zu Rathe | ||||||
04 | zieht, so wird er vollends unerträglich: weil er alle die Übel in seinem | ||||||
05 | Körper zu fühlen glaubt, die er im Buche liest. - - Zum Kennzeichen | ||||||
06 | dieser Einbildungskrankheit dient die außerordentliche Lustigkeit, der lebhafte | ||||||
07 | Witz und das fröhliche Lachen, denen sich dieser Kranke bisweilen | ||||||
08 | überlassen fühlt und so das immer wandelbare Spiel seiner Launen ist. | ||||||
09 | Die auf kindische Art ängstliche Furcht vor dem Gedanken des Todes | ||||||
10 | nährt diese Krankheit. Wer aber über diesen Gedanken nicht mit männlichem | ||||||
11 | Muthe wegsieht, wird des Lebens nie Recht froh werden. | ||||||
12 | Noch diesseits der Gränze des gestörten Gemüths ist der plötzliche | ||||||
13 | Wechsel der Launen ( raptus ): ein unerwarteter Absprung von einem | ||||||
14 | Thema zu einem ganz verschiedenen, den sich niemand gewärtigt. Bisweilen | ||||||
15 | geht er vor jener Störung, die er ankündigt, vorher: oft aber ist | ||||||
16 | der Kopf schon so verkehrt gestellt, daß diese Überfälle der Regellosigkeit | ||||||
17 | bei ihm zur Regel werden. - Der Selbstmord ist oft bloß die Wirkung | ||||||
18 | von einem Raptus. Denn der, welcher sich in der Heftigkeit des Affects | ||||||
19 | die Gurgel abschneidet, läßt sich bald darauf geduldig sie wieder zunähen. | ||||||
21 | Die Tiefsinnigkeit ( melancholia ) kann auch ein bloßer Wahn | ||||||
22 | von Elend sein, den sich der trübsinnige (zum Grämen geneigte) | ||||||
23 | Selbstquäler schafft. Sie ist selber zwar noch nicht Gemüthsstörung, kann | ||||||
24 | aber wohl dahin führen. - Übrigens ist es ein verfehlter, doch oft vorkommender | ||||||
25 | Ausdruck: von einem tiefsinnigen Mathematiker (z. B. | ||||||
26 | Prof. Hausen) zu reden, indessen daß man bloß den tiefdenkenden meint. | ||||||
27 | § 51. Das Irrereden ( delirium ) des Wachenden im fieberhaften | ||||||
28 | Zustande ist eine körperliche Krankheit und bedarf medicinischer | ||||||
29 | Vorkehrungen. Nur der Irreredende, bei welchem der Arzt keine solche | ||||||
30 | krankhaften Zufälle wahrnimmt, heißt verrückt; wofür das Wort gestört | ||||||
31 | nur ein mildernder Ausdruck ist. Wenn also jemand vorsetzlich ein Unglück | ||||||
32 | angerichtet hat und nun, ob und welche Schuld deswegen auf ihm hafte, | ||||||
33 | die Frage ist, mithin zuvor ausgemacht werden muß, ob er damals verrückt | ||||||
34 | gewesen sei oder nicht, so kann das Gericht ihn nicht an die medicinische, | ||||||
35 | sondern müßte (der Incompetenz des Gerichtshofes halber) ihn | ||||||
36 | an die philosophische Facultät verweisen. Denn die Frage: ob der Angeklagte | ||||||
37 | bei seiner That im Besitz seines natürlichen Verstandes= und | ||||||
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