Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 188 |
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01 | Fähigkeit, weil sie von dem Einflusse eines Gottes herzurühren scheint, | ||||||
02 | auch das eigentliche Divinationsvermögen genannt wird (denn uneigentlich | ||||||
03 | wird jede scharfsinnige Errathung des Künftigen auch Divination | ||||||
04 | genannt). | ||||||
05 | Wenn es von jemanden heißt: er wahrsagt dieses oder jenes Schicksal, | ||||||
06 | so kann dieses eine ganz natürliche Geschicklichkeit anzeigen. Von | ||||||
07 | dem aber, der hierin eine übernatürliche Einsicht vorgiebt, muß es heißen: | ||||||
08 | er wahrsagert; wie die Zigeuner von hinduischer Abstammung, die das | ||||||
09 | Wahrsagen aus der Hand Planetenlesen nennen; oder die Astrologen | ||||||
10 | und Schatzgräber, denen sich auch die Goldmacher anschließen, über welche | ||||||
11 | alle im griechischen Alterthum die Pythia, zu unserer Zeit aber der lumpichte | ||||||
12 | sibirische Schaman hervorragt. Die Wahrsagungen der Auspizen | ||||||
13 | und Haruspizen der Römer hatten nicht sowohl die Entdeckung des Verborgenen | ||||||
14 | im Laufe der Begebenheiten der Welt, als vielmehr des Willens | ||||||
15 | der Götter, dem sie sich ihrer Religion gemäß zu fügen hatten, zur Absicht. | ||||||
16 | - Wie aber gar die Poeten dazu kamen, sich auch für begeistert | ||||||
17 | (oder besessen) und für wahrsagend ( vates ) zu halten, und in ihren dichterischen | ||||||
18 | Anwandlungen ( furor poeticus ) Eingebungen zu haben sich berühmen | ||||||
19 | konnten, kann nur dadurch erklärt werden: daß der Dichter nicht | ||||||
20 | so wie der Prosenredner bestellte Arbeit mit Muße verfertigt, sondern den | ||||||
21 | günstigen Augenblick seiner ihn anwandelnden inneren Sinnenstimmung | ||||||
22 | haschen muß, in welchem ihm lebendige und kräftige Bilder und Gefühle | ||||||
23 | von selbst zuströmen, und er hiebei sich gleichsam nur leidend verhält; wie | ||||||
24 | es denn auch schon eine alte Bemerkung ist, daß dem Genie eine gewisse | ||||||
25 | Dosis von Tollheit beigemischt sei. Hierauf gründet sich auch der Glaube | ||||||
26 | an Orakelsprüche, die in den blind gewählten Stellen berühmter (gleichsam | ||||||
27 | durch Eingebung getriebener) Dichter vermuthet wurden ( sortes Virgilianae ); | ||||||
28 | ein dem Schatzkästlein der neueren Frömmler ähnliches Mittel, den | ||||||
29 | Willen des Himmels zu entdecken; oder auch die Auslegung Sibyllinischer | ||||||
30 | Bücher, die den Römern das Staatsschicksal vorherverkündigt haben sollen, | ||||||
31 | und deren sie, leider! durch übelangewandte Knickerei zum Theil verlustig | ||||||
32 | geworden sind. | ||||||
33 | Alle Weissagungen, die ein unablenkbares Schicksal eines Volks vorherverkündigen, | ||||||
34 | was doch von ihm selbst verschuldet, mithin durch seine | ||||||
35 | freie Willkür herbeigeführt sein soll, haben außer dem, daß das Vorherwissen | ||||||
36 | ihm unnütz ist, weil es ihm doch nicht entgehen kann, das Ungereimte | ||||||
37 | an sich, daß in diesem unbedingten Verhängniß ( decretum absolutum ) | ||||||
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