Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 187 |
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01 | die Zukunft entweder Vorempfindung, d. i. Ahndung ( praesensio ), oder*) | ||||||
02 | Vorhererwartung ( praesagitio ). Das erstere deutet gleichsam einen verborgenen | ||||||
03 | Sinn für das an, was noch nicht gegenwärtig ist; das zweite ein | ||||||
04 | durch Reflexion über das Gesetz der Folge der Begebenheiten nach einander | ||||||
05 | (das der Causalität) erzeugtes Bewußtsein des Künftigen. | ||||||
06 | Man sieht leicht, daß alle Ahndung ein Hirngespenst sei; denn wie | ||||||
07 | kann man empfinden, was noch nicht ist? Sind es aber Urtheile aus | ||||||
08 | dunkelen Begriffen eines solchen Causalverhältnisses, so sind es nicht Vorempfindungen, | ||||||
09 | sondern man kann die Begriffe, die dazu führen, entwickeln | ||||||
10 | und, wie es mit dem gedachten Urtheile zustehe, erklären. - Ahndungen | ||||||
11 | sind mehrentheils von der ängstlichen Art; die Bangigkeit, welche ihre | ||||||
12 | physische Ursachen hat, geht hervor, unbestimmt was der Gegenstand der | ||||||
13 | Furcht sei. Aber es giebt auch frohe und kühne Ahndungen von Schwärmern, | ||||||
14 | welche die nahe Enthüllung eines Geheimnisses, für das der Mensch | ||||||
15 | doch keine Empfänglichkeit der Sinne hat, wittern und die Vorempfindung | ||||||
16 | dessen, was sie als Epopten in mystischer Anschauung erwarten, so eben | ||||||
17 | entschleiert zu sehen Glauben. - Der Bergschotten ihr zweites Gesicht, | ||||||
18 | mit welchem etliche unter ihnen einen am Mastbaum Aufgeknüpften zu | ||||||
19 | sehen glauben, von dessen Tode sie, wenn sie wirklich in den entfernten | ||||||
20 | Hafen eingelaufen sind, die Nachricht erhalten zu haben vorgeben, gehört | ||||||
21 | auch in diese Classe der Bezauberungen. | ||||||
22 | C. |
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23 | Von der Wahrsagergabe. |
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24 | ( Facultas divinatrix .) |
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25 | § 36. Vorhersagen, Wahrsagen und Weissagen sind darin unterschieden: | ||||||
26 | daß das erstere ein Vorhersehen nach Erfahrungsgesetzen (mithin | ||||||
27 | natürlich), das zweite den bekannten Erfahrungsgesetzen entgegen | ||||||
28 | (widernatürlich), das dritte aber Eingebung einer von der Natur unterschiedenen | ||||||
29 | Ursache (übernatürlich) ist, oder dafür gehalten wird, deren | ||||||
*) Man hat neuerlich zwischen etwas Ahnen und Ahnden einen Unterschied machen wollen; allein das erstere ist kein deutsches Wort, und es bleibt nur das letztere. - Ahnden bedeutet so viel als Gedenken. Es ahndet mir heißt: es schwebt etwas meiner Erinnerung dunkel vor; etwas ahnden bedeutet jemandes That ihm im Bösen gedenken (d. i. sie bestrafen). Es ist immer derselbe Begriff, aber anders gewandt. | |||||||
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