Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 186 |
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01 | möglich ist. Das Zurücksehen aufs Vergangene (Erinnern) geschieht nur | ||||||
02 | in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu | ||||||
03 | machen: indem wir im Standpunkte der Gegenwart überhaupt um uns | ||||||
04 | sehen, um etwas zu beschließen, oder worauf gefaßt zu sein. | ||||||
05 | Das empirische Voraussehen ist die Erwartung ähnlicher Fälle | ||||||
06 | ( exspectatio casuum similium ) und bedarf keiner Vernunftkunde von | ||||||
07 | Ursachen und Wirkungen, sondern nur der Erinnerung beobachteter Begebenheiten, | ||||||
08 | wie sie gemeiniglich auf einander folgen, und wiederholte | ||||||
09 | Erfahrungen bringen darin eine Fertigkeit hervor. Wie Wind und Wetter | ||||||
10 | stehen werden, interessirt sehr den Schiffer und Ackersmann. Aber wir | ||||||
11 | reichen hierin mit unserer Vorhersagung nicht viel weiter, als der sogenannte | ||||||
12 | Bauerkalender, dessen Voraussagungen, wenn sie etwa eintreffen, | ||||||
13 | gepriesen, treffen sie nicht ein, vergessen werden und so immer in einigem | ||||||
14 | Credit bleiben. - Man sollte fast Glauben, die Vorsehung habe das Spiel | ||||||
15 | der Witterungen absichtlich so undurchschaulich verflochten, damit es Menschen | ||||||
16 | nicht so leicht wäre, für jede Zeit die dazu erforderlichen Anstalten | ||||||
17 | zu treffen, sondern damit sie Verstand zu brauchen genöthigt würden, um | ||||||
18 | auf alle Fälle bereit zu sein. | ||||||
19 | In den Tag hinein (ohne Vorsicht und Besorgniß) leben, macht zwar | ||||||
20 | dem Verstande des Menschen eben nicht viel Ehre; wie dem Caraiben, | ||||||
21 | der des Morgens seine Hangmatte verkauft und des Abends darüber betreten | ||||||
22 | ist, daß er nicht weiß, wie er des Nachts schlafen wird. Wenn aber | ||||||
23 | dabei nur kein Verstoß wider die Moralität vorkommt, so kann man einen, | ||||||
24 | der für alle Eräugnisse abgehärtet ist, wohl für glücklicher halten, als den, | ||||||
25 | der sich immer nur mit trüben Aussichten die Lust am Leben verkümmert. | ||||||
26 | Unter allen Aussichten aber, die der Mensch nur haben kann, ist die wohl | ||||||
27 | die tröstlichste, wenn er nach seinem gegenwärtigen moralischen Zustande | ||||||
28 | Ursache hat, die Fortdauer und das fernere Fortschreiten zum noch Besseren | ||||||
29 | im Prospect zu haben. Dagegen wenn er zwar muthig den Vorsatz faßt, | ||||||
30 | von nun an einen neuen und besseren Lebenswandel einzuschlagen, sich | ||||||
31 | aber selbst sagen muß: es wird doch wohl nichts daraus werden, weil du | ||||||
32 | öfters dieses Versprechen (durch Procrastination) dir gegeben, es aber | ||||||
33 | immer unter dem Vorwande einer Ausnahme für dieses einzige Mal | ||||||
34 | gebrochen hast: so ist das ein trostloser Zustand der Erwartung ähnlicher | ||||||
35 | Fälle. | ||||||
36 | Wo es aber auf das Schicksal, was über uns schweben mag, nicht | ||||||
37 | auf den Gebrauch unserer freien Willkür ankommt, da ist die Aussicht in | ||||||
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