Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 171 |
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01 | stufenweise wieder herzustellen. - Weiber, Geistliche und Juden betrinken | ||||||
02 | gewöhnlich sich nicht, wenigstens vermeiden sie sorgfältig allen Schein davon, | ||||||
03 | weil sie bürgerlich schwach sind und Zurückhaltung nöthig haben | ||||||
04 | (wozu durchaus Nüchternheit erfordert wird). Denn ihr äußerer Werth | ||||||
05 | beruht blos auf dem Glauben Anderer an ihre Keuschheit, Frömmigkeit | ||||||
06 | und separatistische Gesetzlichkeit. Denn was das letztere betrifft, so sind | ||||||
07 | alle Separatisten, d. i. solche, die sich nicht blos einem öffentlichen Landesgesetz, | ||||||
08 | sondern noch einem besonderen (sectenmäßig) unterwerfen, als Sonderlinge | ||||||
09 | und vorgeblich Auserlesene, der Aufmerksamkeit des Gemeinwesens | ||||||
10 | und der Schärfe der Kritik vorzüglich ausgesetzt; können also auch | ||||||
11 | in der Aufmerksamkeit auf sich selbst nicht nachlassen, weil der Rausch, der | ||||||
12 | diese Behutsamkeit wegnimmt, für sie ein Skandal ist. | ||||||
13 | Vom Cato sagt sein stoischer Verehrer: "Seine Tugend stärkte sich | ||||||
14 | durch Wein ( virtus eius incaluit mero )," und von den alten Deutschen ein | ||||||
15 | Neuerer: "Sie faßten ihre Rathschläge (zu Beschließung eines Krieges) | ||||||
16 | beim Trunk, damit sie nicht ohne Nachdruck wären, und überlegten sie | ||||||
17 | nüchtern, damit sie nicht ohne Verstand wären." | ||||||
18 | Der Trunk löst die Zunge ( in vino disertus ). - Er öffnet aber auch | ||||||
19 | das Herz und ist ein materiales Vehikel einer moralischen Eigenschaft, | ||||||
20 | nämlich der Offenherzigkeit. - Das Zurückhalten mit seinen Gedanken | ||||||
21 | ist für ein lauteres Herz ein beklemmender Zustand, und lustige Trinker | ||||||
22 | dulden es auch nicht leicht, daß jemand bei einem Gelage sehr mäßig sei: | ||||||
23 | weil er einen Aufmerker vorstellt, der auf die Fehler der Anderen Acht | ||||||
24 | hat, mit seinen eigenen aber zurückhält. Auch sagt Hume: "Unangenehm | ||||||
25 | ist der Gesellschafter, der nicht vergißt; die Thorheiten des einen Tages | ||||||
26 | müssen vergessen werden, um denen des anderen Platz zu machen." Gutmüthigkeit | ||||||
27 | wird bei dieser Erlaubniß, die der Mann hat, der geselligen | ||||||
28 | Freude wegen über die Grenzlinie der Nüchternheit ein wenig und auf | ||||||
29 | kurze Zeit hinauszugehen, vorausgesetzt; die vor einem halben Jahrhundert | ||||||
30 | im Schwang gewesene Politik, als nordische Höfe Gesandte abschickten, | ||||||
31 | die viel trinken konnten, ohne sich zu betrinken, andere aber betrunken | ||||||
32 | machten, um sie auszuforschen oder zu bereden, war hinterlistig; ist aber | ||||||
33 | mit der Rohigkeit der Sitten damaliger Zeit verschwunden, und eine | ||||||
34 | Epistel der Warnung wider dieses Laster möchte wohl in Ansehung der | ||||||
35 | gesitteten Stände jetzt überflüssig sein. | ||||||
36 | Ob man beim Trinken auch wohl das Temperament des Menschen, | ||||||
37 | der sich betrinkt, oder seinen Charakter erforschen könne? Ich glaube nicht. | ||||||
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