Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 170

   
         
 

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  01 deren einige als Gifte die Lebenskraft schwächend (gewisse Schwämme,    
  02 Porsch, wilder Bärenklau, das Chica der Peruaner und das Ava der    
  03 Südseeindianer, das Opium); andere sie stärkend, wenigstens ihr Gefühl    
  04 erhebend (wie gegohrne Getränke, Wein und Bier, oder dieser ihr    
  05 geistiger Auszug, Branntwein), alle aber widernatürlich und gekünstelt    
  06 sind. Der, welcher sie in solchem Übermaße zu sich nimmt, daß er die    
  07 Sinnenvorstellungen nach Erfahrungsgesetzen zu ordnen auf eine Zeit lang    
  08 unvermögend wird, heißt trunken oder berauscht; und sich willkürlich    
  09 oder absichtlich in diesen Zustand versetzen, heißt sich berauschen. Alle    
  10 diese Mittel aber sollen dazu dienen, den Menschen die Last, die ursprünglich    
  11 im Leben überhaupt zu Liegen scheint, vergessen zu machen. - Die    
  12 sehr ausgebreitete Neigung und der Einfluß derselben auf den Verstandesgebrauch    
  13 verdient vorzüglich in einer pragmatischen Anthropologie in Betrachtung    
  14 gezogen zu werden.    
         
  15 Alle stumme Berauschung, d. i. diejenige, welche die Geselligkeit und    
  16 wechselseitige Gedankenmittheilung nicht belebt, hat etwas schändliches    
  17 an sich; dergleichen die vom Opium und dem Branntwein ist. Wein und    
  18 Bier, wovon der erstere blos reizend, das zweite mehr nährend und gleich    
  19 einer Speise sättigend ist, dienen zur geselligen Berauschung; wobei doch    
  20 der Unterschied ist, daß die Trinkgelage mit dem letzteren mehr träumerisch    
  21 verschlossen, oft auch ungeschliffen, die aber mit dem ersteren fröhlich,    
  22 laut und mit Witz redselig sind.    
         
  23 Die Unenthaltsamkeit im gesellschaftlichen Trinken, die bis zur Benebelung    
  24 der Sinne geht, ist allerdings eine Unart des Mannes nicht    
  25 blos in Ansehung der Gesellschaft, mit der man sich unterhält, sondern    
  26 auch in Absicht auf die Selbstschätzung, wenn er aus ihr taumelnd, wenigstens    
  27 nicht sicheren Tritts, oder blos lallend herausgeht. Aber es läßt    
  28 sich auch vieles zur Milderung des Urtheils über ein solches Versehen, da    
  29 die Gränzlinie des Selbstbesitzes so leicht übersehen und überschritten    
  30 werden kann, anführen; denn der Wirth will doch, daß der Gast durch    
  31 diesen Act der Geselligkeit völlig befriedigt ( ut conviva satur ) herausgehe.    
         
  32 Die Sorgenfreiheit und mit ihr auch wohl die Unbehutsamkeit, welche    
  33 der Rausch bewirkt, ist ein täuschendes Gefühl vermehrter Lebenskraft; der    
  34 Berauschte fühlt nun nicht die Hindernisse des Lebens, mit deren Überwältigung    
  35 die Natur unablässig zu thun hat (worin auch die Gesundheit    
  36 besteht), und ist glücklich in seiner Schwäche, indem die Natur wirklich in    
  37 ihm bestrebt ist, durch allmählige Steigerung seiner Kräfte sein Leben    
         
     

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