Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 132 |
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01 | im Gesicht oder eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen könnte. Es ist | ||||||
02 | aber eine besondere Unart unseres Attentionsvermögens gerade darauf, | ||||||
03 | was fehlerhaft an anderen ist, auch unwillkürlich seine Aufmerksamkeit zu | ||||||
04 | heften: seine Augen auf einen dem Gesicht gerade gegenüber am Rock fehlenden | ||||||
05 | Knopf, oder die Zahnlücke, oder einen angewohnten Sprachfehler | ||||||
06 | zu richten und den Anderen dadurch zu verwirren, sich selbst aber auch im | ||||||
07 | Umgange das Spiel zu Verderben. - Wenn das Hauptsächliche gut ist, | ||||||
08 | so ist es nicht allein billig, sondern auch klüglich gehandelt, über das Üble | ||||||
09 | an Anderen, ja selbst unseres eigenen Glückszustandes wegzusehen; aber | ||||||
10 | dieses Vermögen zu abstrahiren ist eine Gemüthsstärke, welche nur durch | ||||||
11 | Übung erworben werden kann. | ||||||
12 | Von dem Beobachten seiner selbst. |
[ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 063) ] | |||||
13 | § 4. Das Bemerken ( animadvertere ) ist noch nicht ein Beobachten | ||||||
14 | ( observare ) seiner selbst. Das letztere ist eine methodische Zusammenstellung | ||||||
15 | der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den | ||||||
16 | Stoff zum Tagebuch eines Beobachters seiner selbst abgiebt und | ||||||
17 | leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt. | ||||||
18 | Das Aufmerken ( attentio ) auf sich selbst, wenn man mit Menschen | ||||||
19 | zu thun hat, ist zwar nothwendig, muß aber im Umgange nicht sichtbar | ||||||
20 | werden; denn da macht es entweder genirt (verlegen) oder affectirt (geschroben). | ||||||
21 | Das Gegentheil von beiden ist die Ungezwungenheit (das air | ||||||
22 | dçgagç ): ein Vertrauen zu sich selbst von Andern in seinem Anstande nicht | ||||||
23 | nachtheilig beurtheilt zu werden. Der, welcher sich so stellt, als ob er sich | ||||||
24 | vor dem Spiegel beurtheilen wolle, wie es ihm lasse, oder so spricht, als | ||||||
25 | ob er sich (nicht blos als ob ein Anderer ihn) sprechen höre, ist eine Art | ||||||
26 | von Schauspieler. Er will repräsentiren und erkünstelt einen Schein | ||||||
27 | von seiner eigenen Person; wodurch, wenn man diese Bemühung an ihm | ||||||
28 | wahrnimmt, er im Urtheil Anderer einbüßt, weil sie den Verdacht einer | ||||||
29 | Absicht zu betrügen erregt. - Man nennt die Freimüthigkeit in der Manier | ||||||
30 | sich äußerlich zu zeigen, die zu keinem solchen Verdacht Anlaß giebt, | ||||||
31 | das natürliche Betragen (welches darum doch nicht alle schöne Kunst und | ||||||
32 | Geschmacks=Bildung ausschließt), und es gefällt durch die bloße Wahrhaftigkeit | ||||||
33 | in Äußerungen. Wo aber zugleich Offenherzigkeit aus Einfalt, | ||||||
34 | d. i. aus Mangel einer schon zur Regel gewordenen Verstellungskunst, | ||||||
35 | aus der Sprache hervorblickt, da heißt sie Naivetät. | ||||||
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