Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 083 |
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| 01 | 4. |
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| 02 | Durch Erfahrung unmittelbar ist die Aufgabe des Fortschreitens |
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| 03 | nicht aufzulösen. |
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| 04 | Wenn das menschliche Geschlecht, im Ganzen betrachtet, eine noch so | ||||||
| 05 | lange Zeit vorwärts gehend und im Fortschreiten begriffen gewesen zu | ||||||
| 06 | sein befunden würde, so kann doch niemand dafür stehen, daß nun nicht | ||||||
| 07 | gerade jetzt vermöge der physischen Anlage unserer Gattung die Epoche | ||||||
| 08 | seines Rückganges eintrete; und umgekehrt, wenn es rücklings und mit | ||||||
| 09 | beschleunigtem Falle zum Ärgeren geht, so darf man nicht verzagen, daß | ||||||
| 10 | nicht eben da der Umwendungspunkt ( punctum flexus contrarii ) anzutreffen | ||||||
| 11 | wäre, wo vermöge der moralischen Anlage in unserem Geschlecht der | ||||||
| 12 | Gang desselben sich wiederum zum Besseren wendete. Denn wir haben es | ||||||
| 13 | mit freihandelnden Wesen zu thun, denen sich zwar vorher dictiren läßt, | ||||||
| 14 | was sie thun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie thun werden, | ||||||
| 15 | und die aus dem Gefühl der Übel, die sie sich selbst zufügten, wenn | ||||||
| 16 | es recht böse wird, eine verstärkte Triebfeder zu nehmen wissen, es nun | ||||||
| 17 | doch besser zu machen, als es vor jenem Zustande war. - Aber "arme | ||||||
| 18 | Sterbliche (sagt der Abt Coyer), unter euch ist nichts beständig, als die | ||||||
| 19 | Unbeständigkeit!" | ||||||
| 20 | Vielleicht liegt es auch an unserer unrecht genommenen Wahl des | ||||||
| 21 | Standpunkts, aus dem wir den Lauf menschlicher Dinge ansehen, daß | ||||||
| 22 | dieser uns so widersinnisch scheint. Die Planeten, von der Erde aus gesehen, | ||||||
| 23 | sind bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig. Den Standpunkt | ||||||
| 24 | aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft thun kann, | ||||||
| 25 | gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese beständig ihren regelmäßigen | ||||||
| 26 | Gang fort. Es gefällt aber einigen sonst nicht Unweisen, steif | ||||||
| 27 | auf ihrer Erklärungsart der Erscheinungen und dem Standpunkte zu beharren, | ||||||
| 28 | den sie einmal genommen haben: sollten sie sich darüber auch in | ||||||
| 29 | Tychonische Cyklen und Epicyklen bis zur Ungereimtheit verwickeln. | ||||||
| 30 | Aber das ist eben das Unglück, daß wir uns in diesen Standpunkt, wenn | ||||||
| 31 | es die Vorhersehung freier Handlungen angeht, zu versetzen nicht vermögend | ||||||
| 32 | sind. Denn das wäre der Standpunkt der Vorsehung, der über | ||||||
| 33 | alle menschliche Weisheit hinausliegt, welche sich auch auf freie Handlungen | ||||||
| 34 | des Menschen erstreckt, die von diesem zwar gesehen, aber mit | ||||||
| 35 | Gewißheit nicht vorhergesehen werden können (für das göttliche Auge | ||||||
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