Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 041 |
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01 | Vernunftbegriff von der göttlichen Natur und seinem Willen widerstreitet, | ||||||
02 | haben biblische Theologen sich längst zur Regel gemacht, daß, was | ||||||
03 | menschlicherweise (ανθρωποπαθωσ) ausgedrückt ist, nach einem gottwürdigen | ||||||
04 | Sinne ( θεοπρεπωσ) müsse ausgelegt werden; wodurch sie dann | ||||||
05 | ganz deutlich das Bekenntniß ablegten, die Vernunft sei in Religionssachen | ||||||
06 | die oberste Auslegerin der Schrift. -Daß aber selbst, wenn man | ||||||
07 | dem heil. Schriftsteller keinen andern Sinn, den er wirklich mit seinen Ausdrücken | ||||||
08 | verband, unterlegen kann, als einen solchen, der mit unserer Vernunft | ||||||
09 | gar in Widerspruche steht, die Vernunft sich doch berechtigt fühle, | ||||||
10 | seine Schriftstelle so auszulegen, wie sie es ihren Grundsätzen gemäß | ||||||
11 | findet und nicht dem Buchstaben nach auslegen solle, wenn sie jenen nicht | ||||||
12 | gar eines Irrthums beschuldigen will, das scheint ganz und gar wider die | ||||||
13 | oberste Regeln der Interpretation zu verstoßen, und gleichwohl ist es noch | ||||||
14 | immer mit Beifall von den belobtesten Gottesgelehrten geschehen. -So | ||||||
15 | ist es mit St. Paulus/6 Lehre von der Gnadenwahl gegangen, aus welcher | ||||||
16 | aufs deutlichste erhellt, daß seine Privatmeinung die Prädestination im | ||||||
17 | strengsten Sinne des Worts gewesen sein muß, welche darum auch von | ||||||
18 | einer großen protestantischen Kirche in ihren Glauben aufgenommen worden, | ||||||
19 | in der Folge aber von einem großen Theil derselben wieder verlassen, | ||||||
20 | oder, so gut wie man konnte, anders gedeutet worden ist, weil die Vernunft | ||||||
21 | sie mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen | ||||||
22 | und so mit der ganzen Moral unvereinbar findet. -Auch wo der Schriftglaube | ||||||
23 | in keinen Verstoß gewisser Lehren wider sittliche Grundsätze, sondern | ||||||
24 | nur wider die Vernunftmaxime in Beurtheilung physischer Erscheinungen | ||||||
25 | geräth, haben Schriftausleger mit fast allgemeinem Beifall manche | ||||||
26 | biblische Geschichtserzählungen, z. B. von den Besessenen (dämonischen | ||||||
27 | Leuten), ob sie zwar in demselben historischen Tone wie die übrige heil. | ||||||
28 | Geschichte in der Schrift vorgetragen worden und fast nicht zu zweifeln | ||||||
29 | ist, daß ihre Schriftsteller sie buchstäblich für wahr gehalten haben, doch | ||||||
30 | so ausgelegt, daß die Vernunft dabei bestehen könnte (um nicht allem | ||||||
31 | Aberglauben und Betrug freien eingang zu verschaffen), ohne daß man | ||||||
32 | ihnnen diese Befugniß bestritten hat. | ||||||
33 | 2.Der Glaube an Schriftlehren, die eigentlich haben offenbart | ||||||
34 | werden müssen, wenn sie haben gekannt werden sollen, hat an sich kein | ||||||
35 | Verdienst, und der Mangel desselben, ja sogar der ihm entgegenstehende | ||||||
36 | Zweifel ist an sich keine Verschuldung, sondern alles kommt | ||||||
37 | in der Religion aufs Thun an, und diese Endabsicht, mithin auch ein | ||||||
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