Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 039

   
         
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

Verknüpfungen:

 

 

 
  01 sie gar alle unsere Begriffe übersteigt. -Ob wir in der Gottheit drei    
  02 oder zehn Personen zu verehren haben, wird der Lehrling mit gleicher    
  03 Leichtigkeit aufs Wort annehmen, weil er von einem Gott in mehreren    
  04 Personen (Hypostasen) gar keinen Begriff hat, noch mehr aber, weil er    
  05 aus dieser Verschiedenheit für seinen Lebenswandel gar keine verschiedene    
  06 Regeln ziehen kann. Dagegen wenn man in Glaubenssätzen einen moralischen    
  07 Sinn hereinträgt (wie ich es: Religion innerhalb den    
  08 Gränzen etc. versucht habe), er nicht einen folgeleeren, sondern auf unsere    
  09 moralische Bestimmung bezogenen verständlichen Glauben enthalten    
  10 würde. Eben so ist es mit der Lehre der Menschwerdung einer Person    
  11 der Gottheit bewandt. Denn wenn dieser Gottmensch nicht als die in    
  12 Gott von Ewigkeit her liegende Idee der Menschheit in ihrer ganzen ihm    
  13 wohlgefälligen moralischen Vollkommenheit*) (ebendaselbst S. 73 f.)1), sondern    
  14 als die in einem wirklichen Menschen "leibhaftig wohnende" und als    
  15 zweite Natur in ihm wirkende Gottheit vorgestellt wird: so ist aus diesem    
  16 Geheimnisse gar nichts Praktisches für uns zu machen, weil wir doch von    
  17 uns nicht verlangen können, daß wir es einem Gotte gleich thun sollen, er    
  18 also in so fern kein Beispiel für uns werden kann, ohne noch die Schwierigkeit    
  19 in Anregung zu bringen, warum, wenn solche Vereinigung einmal    
  20 möglich ist, die Gottheit nicht alle Menschen derselben hat theilhaftig werden    
  21 lassen, welche alsdann unausbleiblich ihm alle wohlgefällig geworden    
  22 wären.- Ein Ähnliches kann von der Auferstehungs= und Himmelfahrtsgeschichte    
  23 eben desselben gesagt werden.    
         
    *) Die Schwärmerei des Postellus in Venedig über diesen Punkt im 16ten Jahrhundert ist von so originaler Art und dient so gut zum Beispiel, in welche Verirrungen, und zwar mit Vernunft zu rasen, man gerathen kann, wenn man die Versinnlichung einer reinen Vernunftidee in die Vorstellung eines Gegenstandes der Sinne verwandelt. Denn wenn unter jener Idee nicht das Abstractum der Menschheit, sondern ein Mensch verstanden wird, so muß dieser von irgend einem Geschlecht sein. Ist dieser von Gott Gezeugte männlichen Geschlechts (ein Sohn), hat die Schwachheit der Menschen getragen und ihre Schuld auf sich genommen so sind die Schwachheiten sowohl als die Übertretungen des anderen Geschlechts doch von denen des männlichen specifisch unterschieden, und man wird nicht ohne Grund versucht anzunehmen, daß dieses auch seine besondere Stellvertreterin (gleichsam eine göttliche Tochter) als Versöhnerin werde bekommen haben; und diese glaubte Postell in der Person einer frommen Jungfrau in Venedig gefunden zu haben. 1) VI 60f.    
         
     

[ Seite 038 ] [ Seite 040 ] [ Inhaltsverzeichnis ]