Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 402 |
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Text (Kant):
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01 | (zwischen dem Möglichen und Wirklichen) geben. Wäre nämlich unser | ||||||
02 | Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche. | ||||||
03 | Begriffe (die bloß auf die Möglichkeit eines Gegenstandes gehen) und | ||||||
04 | sinnliche Anschauungen (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch | ||||||
05 | als Gegenstand erkennen zu lassen) würden beide wegfallen. Nun beruht | ||||||
06 | aber alle unsere Unterscheidung des bloß Möglichen vom Wirklichen darauf, | ||||||
07 | daß das erstere nur die Position der Vorstellung eines Dinges | ||||||
08 | respectiv auf unsern Begriff und überhaupt das Vermögen zu denken, das | ||||||
09 | letztere aber die Setzung des Dinges an sich selbst (außer diesem Begriffe) | ||||||
10 | bedeutet. Also ist die Unterscheidung möglicher Dinge von wirklichen | ||||||
11 | eine solche, die bloß subjectiv für den menschlichen Verstand gilt, da wir | ||||||
12 | nämlich etwas immer noch in Gedanken haben können, ob es gleich nicht | ||||||
13 | ist, oder etwas als gegeben uns vorstellen, ob wir gleich noch keinen Begriff | ||||||
14 | davon haben. Die Sätze also: daß Dinge möglich sein können, ohne | ||||||
15 | wirklich zu sein, daß also aus der bloßen Möglichkeit auf die Wirklichkeit | ||||||
16 | gar nicht geschlossen werden könne, gelten ganz richtig für die menschliche | ||||||
17 | Vernunft, ohne darum zu beweisen, daß dieser Unterschied in den Dingen | ||||||
18 | selbst liege. Denn daß dieses nicht daraus gefolgert werden könne, mithin | ||||||
19 | jene Sätze zwar allerdings auch von Objecten gelten, so fern unser Erkenntnißvermögen | ||||||
20 | als sinnlich=bedingt sich auch mit Objecten der Sinne | ||||||
21 | beschäftigt, aber nicht von Dingen überhaupt: leuchtet aus der unablaßlichen | ||||||
22 | Forderung der Vernunft ein, irgend ein Etwas (den Urgrund) | ||||||
23 | als unbedingt nothwendig existirend anzunehmen, an welchem Möglichkeit | ||||||
24 | und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen, und für welche | ||||||
25 | Idee unser Verstand schlechterdings keinen Begriff hat, d. i. keine Art ausfinden | ||||||
26 | kann, wie er ein solches Ding und seine Art zu existiren sich vorstellen | ||||||
27 | solle. Denn wenn er es denkt (er mag es denken, wie er will), so | ||||||
28 | ist es bloß als möglich vorgestellt. Ist er sich dessen als in der Anschauung | ||||||
29 | gegeben bewußt, so ist es wirklich, ohne sich hiebei irgend etwas von | ||||||
30 | Möglichkeit zu denken. Daher ist der Begriff eines absolut=nothwendigen | ||||||
31 | Wesens zwar eine unentbehrliche Vernunftidee, aber ein für den menschlichen | ||||||
32 | Verstand unerreichbarer problematischer Begriff. Er gilt aber doch | ||||||
33 | für den Gebrauch unserer Erkenntnißvermögen nach der eigenthümlichen | ||||||
34 | Beschaffenheit derselben, mithin nicht vom Objecte und hiemit für jedes | ||||||
35 | erkennende Wesen: weil ich nicht bei jedem das Denken und die Anschauung, | ||||||
36 | als zwei verschiedene Bedingungen der Ausübung seiner Erkenntnißvermögen, | ||||||
37 | mithin der Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge, | ||||||
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