Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 355 |
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01 | nicht anwenden: weil es keine Wissenschaft des Schönen giebt noch geben | ||||||
02 | kann, und das Urtheil des Geschmacks nicht durch Principien bestimmbar | ||||||
03 | ist. Denn was das Wissenschaftliche in jeder Kunst anlangt, welches auf | ||||||
04 | Wahrheit in der Darstellung ihres Objects geht, so ist dieses zwar die | ||||||
05 | unumgängliche Bedingung ( conditio sine qua non ) der schönen Kunst, | ||||||
06 | aber diese nicht selber. Es giebt also für die schöne Kunst nur eine Manier | ||||||
07 | ( modus ), nicht Lehrart ( methodus ). Der Meister muß es vormachen, | ||||||
08 | was und wie es der Schüler zu Stande bringen soll; und die | ||||||
09 | allgemeinen Regeln, worunter er zuletzt sein Verfahren bringt, können | ||||||
10 | eher dienen, die Hauptmomente desselben gelegentlich in Erinnerung zu | ||||||
11 | bringen, als sie ihm vorzuschreiben. Hiebei muß dennoch auf ein gewisses | ||||||
12 | Ideal Rücksicht genommen werden, welches die Kunst vor Augen haben | ||||||
13 | muß, ob sie es gleich in ihrer Ausübung nie völlig erreicht. Nur durch | ||||||
14 | die Aufweckung der Einbildungskraft des Schülers zur Angemessenheit | ||||||
15 | mit einem gegebenen Begriffe, durch die angemerkte Unzulänglichkeit des | ||||||
16 | Ausdrucks für die Idee, welche der Begriff selbst nicht erreicht, weil sie | ||||||
17 | ästhetisch ist, und durch scharfe Kritik kann verhütet werden, daß die Beispiele, | ||||||
18 | die ihm vorgelegt werden, von ihm nicht sofort für Urbilder und | ||||||
19 | etwa keiner noch höhern Norm und eigener Beurtheilung unterworfene | ||||||
20 | Muster der Nachahmung gehalten und so das Genie, mit ihm aber auch | ||||||
21 | die Freiheit der Einbildungskraft selbst in ihrer Gesetzmäßigkeit erstickt | ||||||
22 | werde, ohne welche keine schöne Kunst, selbst nicht einmal ein richtiger sie | ||||||
23 | beurtheilender eigener Geschmack möglich ist. | ||||||
24 | Die Propädeutik zu aller schönen Kunst, sofern es auf den höchsten | ||||||
25 | Grad ihrer Vollkommenheit angelegt ist, scheint nicht in Vorschriften, sondern | ||||||
26 | in der Cultur der Gemüthskräfte durch diejenigen Vorkenntnisse zu | ||||||
27 | liegen, welche man humaniora nennt: vermuthlich weil Humanität | ||||||
28 | einerseits das allgemeine Theilnehmungsgefühl, andererseits das | ||||||
29 | Vermögen sich innigst und allgemein mittheilen zu können bedeutet; | ||||||
30 | welche Eigenschaften, zusammen verbunden, die der Menschheit angemessene | ||||||
31 | Geselligkeit ausmachen, wodurch sie sich von der thierischen Eingeschränktheit | ||||||
32 | unterscheidet. Das Zeitalter sowohl als die Völker, in welchen | ||||||
33 | der rege Trieb zur gesetzlichen Geselligkeit, wodurch ein Volk ein | ||||||
34 | dauerndes gemeines Wesen ausmacht, mit den großen Schwierigkeiten | ||||||
35 | rang, welche die schwere Aufgabe, Freiheit (und also auch Gleichheit) mit | ||||||
36 | einem Zwange (mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht als Furcht) | ||||||
37 | zu vereinigen, umgeben; ein solches Zeitalter und ein solches Volk mußte | ||||||
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