Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 338 |
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Text (Kant):
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| 01 | § 56. |
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| 02 | Vorstellung der Antinomie des Geschmacks. |
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| 03 | Der erste Gemeinort des Geschmacks ist in dem Satze, womit sich | ||||||
| 04 | jeder Geschmacklose gegen Tadel zu verwahren denkt, enthalten: ein jeder | ||||||
| 05 | hat seinen eignen Geschmack. Das heißt so viel als: der Bestimmungsgrund | ||||||
| 06 | dieses Urtheils ist bloß subjectiv (Vergnügen oder Schmerz); | ||||||
| 07 | und das Urtheil hat kein Recht auf die nothwendige Beistimmung anderer. | ||||||
| 08 | Der zweite Gemeinort desselben, der auch von denen sogar gebraucht | ||||||
| 09 | wird, die dem Geschmacksurtheile das Recht einräumen, für jedermann | ||||||
| 10 | gültig auszusprechen, ist: über den Geschmack läßt sich nicht disputiren. | ||||||
| 11 | Das heißt so viel als: der Bestimmungsgrund eines Geschmacksurtheils | ||||||
| 12 | mag zwar auch objectiv sein, aber er läßt sich nicht auf bestimmte | ||||||
| 13 | Begriffe bringen; mithin kann über das Urtheil selbst durch Beweise | ||||||
| 14 | nichts entschieden werden, obgleich darüber gar wohl und mit Recht | ||||||
| 15 | gestritten werden kann. Denn Streiten und Disputiren sind zwar | ||||||
| 16 | darin einerlei, daß sie durch wechselseitigen Widerstand der Urtheile Einhelligkeit | ||||||
| 17 | derselben hervorzubringen suchen, darin aber verschieden, daß | ||||||
| 18 | das letztere dieses nach bestimmten Begriffen als Beweisgründen zu bewirken | ||||||
| 19 | hofft, mithin objective Begriffe als Gründe des Urtheils annimmt. | ||||||
| 20 | Wo dieses aber als unthunlich betrachtet wird, da wird das Disputiren | ||||||
| 21 | eben sowohl als unthunlich beurtheilt. | ||||||
| 22 | Man sieht leicht, daß zwischen diesen zwei Gemeinörtern ein Satz | ||||||
| 23 | fehlt, der zwar nicht sprichwörtlich im Umlaufe, aber doch in jedermanns | ||||||
| 24 | Sinne enthalten ist, nämlich: über den Geschmack läßt sich streiten | ||||||
| 25 | (obgleich nicht disputiren). Dieser Satz aber enthält das Gegentheil des | ||||||
| 26 | obersten Satzes. Denn worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da mu | ||||||
| 27 | Hoffnung sein unter einander überein zu kommen; mithin muß man auf | ||||||
| 28 | Gründe des Urtheils, die nicht bloß Privatgültigkeit haben und also nicht | ||||||
| 29 | bloß subjectiv sind, rechnen können; welchem gleichwohl jener Grundsatz: | ||||||
| 30 | ein jeder hat seinen eignen Geschmack, gerade entgegen ist. | ||||||
| 31 | Es zeigt sich also in Ansehung des Princips des Geschmacks folgende | ||||||
| 32 | Antinomie: | ||||||
| 33 | 1) Thesis. Das Geschmacksurtheil gründet sich nicht auf Begriffen; | ||||||
| 34 | denn sonst ließe sich darüber disputiren (durch Beweise entscheiden). | ||||||
| 35 | 2) Antithesis. Das Geschmacksurtheil gründet sich auf Begriffen; | ||||||
| 36 | denn sonst ließe sich ungeachtet der Verschiedenheit desselben darüber auch | ||||||
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