Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 327 |
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01 | dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; | ||||||
02 | denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für bloßes Spiel, welches gleichwohl | ||||||
03 | vom Verstande und zu dessen Geschäfte zweckmäßig gebraucht werden | ||||||
04 | kann. - Die Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, | ||||||
05 | d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria ), und nicht | ||||||
06 | bloße Wohlredenheit (Eloquenz und Stil) verstanden wird, ist eine Dialektik, | ||||||
07 | die von der Dichtkunst nur so viel entlehnt, als nöthig ist, die Gemüther | ||||||
08 | vor der Beurtheilung für den Redner zu dessen Vortheil zu gewinnen | ||||||
09 | und dieser die Freiheit zu benehmen; kann also weder für die | ||||||
10 | Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angerathen werden. Denn wenn | ||||||
11 | es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen, oder um | ||||||
12 | dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüther zur richtigen | ||||||
13 | Kenntniß und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht zu thun ist: so ist | ||||||
14 | es unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes, auch nur eine Spur | ||||||
15 | von Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft, noch mehr aber von | ||||||
16 | der Kunst zu überreden und zu irgend jemandes Vortheil einzunehmen | ||||||
17 | blicken zu lassen. Denn wenn sie gleich bisweilen zu an sich rechtmäßigen | ||||||
18 | und lobenswürdigen Absichten angewandt werden kann, so wird sie doch | ||||||
19 | dadurch verwerflich, daß auf diese Art die Maximen und Gesinnungen | ||||||
20 | subjectiv verderbt werden, wenn gleich die That objectiv gesetzmäßig ist: | ||||||
21 | indem es nicht genug ist, das, was Recht ist, zu thun, sondern es auch | ||||||
22 | aus dem Grunde allein, weil es Recht ist, auszuüben. Auch hat der bloße | ||||||
23 | deutliche Begriff dieser Arten von menschlicher Angelegenheit, mit einer | ||||||
24 | lebhaften Darstellung in Beispielen verbunden und ohne Verstoß wider | ||||||
25 | die Regeln des Wohllauts der Sprache, oder der Wohlanständigkeit des | ||||||
26 | Ausdrucks für Ideen der Vernunft (die zusammen die Wohlredenheit ausmachen), | ||||||
27 | schon an sich hinreichenden Einfluß auf menschliche Gemüther, als | ||||||
28 | daß es nöthig wäre noch die Maschinen der Überredung hiebei anzulegen; | ||||||
29 | welche, da sie eben sowohl auch zur Beschönigung oder Verdeckung des Lasters | ||||||
30 | und Irrthums gebraucht werden können, den geheimen Verdacht wegen | ||||||
31 | einer künstlichen Überlistung nicht ganz vertilgen können. In der Dichtkunst | ||||||
32 | geht alles ehrlich und aufrichtig zu. Sie erklärt sich, ein bloßes unterhaltendes | ||||||
33 | Spiel mit der Einbildungskraft und zwar der Form nach einstimmig | ||||||
34 | mit Verstandesgesetzen treiben zu wollen; und verlangt nicht den | ||||||
35 | Verstand durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken.*) | ||||||
*)Ich muß gestehen: daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks= [Seitenumbruch] oder jetzigen Parlaments= oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urtheile zu bewegen versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst ( ars oratoria ) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig. Auch erhob sie sich nur sowohl in Athen als in Rom zur höchsten Stufe zu einer Zeit, da der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war. Wer bei klarer Einsicht in Sachen die Sprache nach deren Reichthum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat und bei einer fruchtbaren, zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft lebhaften Herzensantheil am wahren Guten nimmt, ist der vir bonus dicendi peritus , der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn Cicero haben will, ohne doch diesem Ideal selbst immer treu geblieben zu sein. | |||||||
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