Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 326

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Kunst besteht das Wesentliche in der Form, welche für die Beobachtung      
  02 und Beurtheilung zweckmäßig ist, wo die Lust zugleich Cultur ist und den      
  03 Geist zu Ideen stimmt, mithin ihn mehrerer solcher Lust und Unterhaltung      
  04 empfänglich macht; nicht in der Materie der Empfindung (dem      
  05 Reize oder der Rührung), wo es bloß auf Genuß angelegt ist, welcher      
  06 nichts in der Idee zurückläßt, den Geist stumpf, den Gegenstand nach und      
  07 nach anekelnd und das Gemüth durch das Bewußtsein seiner im Urtheile      
  08 der Vernunft zweckwidrigen Stimmung mit sich selbst unzufrieden und      
  09 launisch macht.      
           
  10 Wenn die schönen Künste nicht nahe oder fern mit moralischen Ideen      
  11 in Verbindung gebracht werden, die allein ein selbstständiges Wohlgefallen      
  12 bei sich führen, so ist das letztere ihr endliches Schicksal. Sie dienen alsdann      
  13 nur zur Zerstreuung, deren man immer desto mehr bedürftig wird,      
  14 als man sich ihrer bedient, um die Unzufriedenheit des Gemüths mit sich      
  15 selbst dadurch zu vertreiben, daß man sich immer noch unnützlicher und      
  16 mit sich selbst unzufriedener macht. Überhaupt sind die Schönheiten der      
  17 Natur zu der ersteren Absicht am zuträglichsten, wenn man früh dazu      
  18 gewöhnt wird, sie zu beobachten, zu beurtheilen und zu bewundern.      
           
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§ 53.

     
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Vergleichung des ästhetischen Werths der schönen Künste

     
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untereinander.

     
           
  22 Unter allen behauptet die Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie      
  23 ihren Ursprung verdankt und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch      
  24 Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüth      
  25 dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb      
  26 den Schranken eines gegebenen Begriffs unter der unbegränzten      
  27 Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen diejenige      
  28 darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle      
  29 verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also      
  30 ästhetisch zu Ideen erhebt. Sie stärkt das Gemüth, indem sie es sein      
  31 freies, selbstthätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen      
  32 fühlen läßt, die Natur als Erscheinung nach Ansichten zu betrachten      
  33 und zu beurtheilen, die sie nicht von selbst weder für den Sinn noch      
  34 den Verstand in der Erfahrung darbietet, und sie also zum Behuf und      
  35 gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen. Sie spielt mit      
           
     

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