Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 317 |
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| 01 | aber die Einbildungskraft frei ist, um noch über jene Einstimmung | ||||||
| 02 | zum Begriffe, doch ungesucht reichhaltigen unentwickelten Stoff für den | ||||||
| 03 | Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rücksicht nahm, zu liefern, | ||||||
| 04 | welchen dieser aber nicht sowohl objectiv zum Erkenntnisse, als subjectiv | ||||||
| 05 | zur Belebung der Erkenntnißkräfte, indirect also doch auch zu Erkenntnissen | ||||||
| 06 | anwendet: so besteht das Genie eigentlich in dem glücklichen | ||||||
| 07 | Verhältnisse, welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen | ||||||
| 08 | kann, zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden und andrerseits zu | ||||||
| 09 | diesen den Ausdruck zu treffen, durch den die dadurch bewirkte subjective | ||||||
| 10 | Gemüthsstimmung, als Begleitung eines Begriffs, anderen mitgetheilt | ||||||
| 11 | werden kann. Das letztere Talent ist eigentlich dasjenige, was man Geist | ||||||
| 12 | nennt; denn das Unnennbare in dem Gemüthszustande bei einer gewissen | ||||||
| 13 | Vorstellung auszudrücken und allgemein mittheilbar zu machen, der Ausdruck | ||||||
| 14 | mag nun in Sprache, oder Malerei, oder Plastik bestehen: das erfordert | ||||||
| 15 | ein Vermögen, das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft | ||||||
| 16 | aufzufassen und in einen Begriff (der eben darum original ist und | ||||||
| 17 | zugleich eine neue Regel eröffnet, die aus keinen vorhergehenden Principien | ||||||
| 18 | oder Beispielen hat gefolgert werden können) zu vereinigen, der sich | ||||||
| 19 | ohne Zwang der Regeln mittheilen läßt. | ||||||
| 20 | Wenn wir nach diesen Zergliederungen auf die oben gegebene Erklärung | ||||||
| 21 | dessen, was man Genie nennt, zurücksehen, so finden wir: erstlich, | ||||||
| 22 | daß es ein Talent zur Kunst sei, nicht zur Wissenschaft, in welcher | ||||||
| 23 | deutlich gekannte Regeln vorangehen und das Verfahren in derselben bestimmen | ||||||
| 24 | müssen; zweitens, daß es als Kunsttalent einen bestimmten | ||||||
| 25 | Begriff von dem Producte als Zweck, mithin Verstand, aber auch eine | ||||||
| 26 | (wenn gleich unbestimmte) Vorstellung von dem Stoff, d. i. der Anschauung, | ||||||
| 27 | zur Darstellung dieses Begriffs, mithin ein Verhältniß der Einbildungskraft | ||||||
| 28 | zum Verstande voraussetze; daß es sich drittens nicht sowohl in der | ||||||
| 29 | Ausführung des vorgesetzten Zwecks in Darstellung eines bestimmten Begriffs, | ||||||
| 30 | als vielmehr im Vortrage, oder dem Ausdrucke ästhetischer | ||||||
| 31 | Ideen, welche zu jener Absicht reichen Stoff enthalten, zeige, mithin die | ||||||
| 32 | Einbildungskraft in ihrer Freiheit von aller Anleitung der Regeln dennoch | ||||||
| 33 | als zweckmäßig zur Darstellung des gegebenen Begriffs vorstellig mache; | ||||||
| 34 | daß endlich viertens die ungesuchte, unabsichtliche subjective Zweckmäßigkeit | ||||||
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