Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 318 |
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| 01 | in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit | ||||||
| 02 | des Verstandes eine solche Proportion und Stimmung dieser Vermögen | ||||||
| 03 | voraussetze, als keine Befolgung von Regeln, es sei der Wissenschaft oder | ||||||
| 04 | mechanischen Nachahmung, bewirken, sondern bloß die Natur des Subjects | ||||||
| 05 | hervorbringen kann. | ||||||
| 06 | Nach diesen Voraussetzungen ist Genie: die musterhafte Originalität | ||||||
| 07 | der Naturgabe eines Subjects im freien Gebrauche seiner Erkenntnißvermögen. | ||||||
| 08 | Auf solche Weise ist das Product eines Genies (nach demjenigen, | ||||||
| 09 | was in demselben dem Genie, nicht der möglichen Erlernung oder | ||||||
| 10 | der Schule zuzuschreiben ist) ein Beispiel nicht der Nachahmung (denn da | ||||||
| 11 | würde das, was daran Genie ist und den Geist des Werks ausmacht, verloren | ||||||
| 12 | gehen), sondern der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch | ||||||
| 13 | zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, Zwangsfreiheit | ||||||
| 14 | von Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst | ||||||
| 15 | eine neue Regel bekommt, wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt. | ||||||
| 16 | Weil aber das Genie ein Günstling der Natur ist, dergleichen man nur | ||||||
| 17 | als seltene Erscheinung anzusehen hat: so bringt sein Beispiel für andere | ||||||
| 18 | gute Köpfe eine Schule hervor, d. i. eine methodische Unterweisung nach | ||||||
| 19 | Regeln, soweit man sie aus jenen Geistesproducten und ihrer Eigenthümlichkeit | ||||||
| 20 | hat ziehen können; und für diese ist die schöne Kunst sofern Nachahmung, | ||||||
| 21 | der die Natur durch ein Genie die Regel gab. | ||||||
| 22 | Aber diese Nachahmung wird Nachäffung, wenn der Schüler alles | ||||||
| 23 | nachmacht bis auf das, was das Genie als Mißgestalt nur hat zulassen | ||||||
| 24 | müssen, weil es sich, ohne die Idee zu schwächen, nicht wohl wegschaffen | ||||||
| 25 | ließ. Dieser Muth ist an einem Genie allein Verdienst; und eine gewisse | ||||||
| 26 | Kühnheit im Ausdrucke und überhaupt manche Abweichung von der gemeinen | ||||||
| 27 | Regel steht demselben wohl an, ist aber keinesweges nachahmungswürdig, | ||||||
| 28 | sondern bleibt immer an sich ein Fehler, den man wegzuschaffen | ||||||
| 29 | suchen muß, für welchen aber das Genie gleichsam privilegirt ist, da das | ||||||
| 30 | Unnachahmliche seines Geistesschwunges durch ängstliche Behutsamkeit | ||||||
| 31 | leiden würde. Das Manieriren ist eine andere Art von Nachäffung, | ||||||
| 32 | nämlich der bloßen Eigenthümlichkeit (Originalität) überhaupt, um | ||||||
| 33 | sich ja von Nachahmern so weit als möglich zu entfernen, ohne doch das | ||||||
| 34 | Talent zu besitzen, dabei zugleich musterhaft zu sein. - Zwar giebt es | ||||||
| 35 | zweierlei Art ( modus ) überhaupt der Zusammenstellung seiner Gedanken | ||||||
| 36 | des Vortrages, deren die eine Manier ( modus aestheticus ), die andere | ||||||
| 37 | Methode ( modus logicus ) heißt, die sich darin von einander unterscheiden: | ||||||
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