Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 314

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen      
  02 Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel      
  03 zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke,      
  04 d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht      
  05 und verständlich machen kann. - Man sieht leicht, daß sie das      
  06 Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein      
  07 Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft)      
  08 adäquat sein kann.      
           
  09 Die Einbildungskraft (als productives Erkenntnißvermögen) ist      
  10 nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem      
  11 Stoffe, den ihr die wirkliche giebt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns      
  12 die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um: zwar      
  13 noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach Principien,      
  14 die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben sowohl natürlich      
  15 sind als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auffaßt);      
  16 wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Association (welches dem empirischen      
  17 Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns      
  18 von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz      
  19 anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.      
           
  20 Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen      
  21 nennen: eines Theils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgränze      
  22 hinaus Liegendem wenigstens streben und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe      
  23 (der intellectuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches      
  24 ihnen den Anschein einer objectiven Realität giebt; andrerseits und zwar      
  25 hauptsächlich, weil ihnen als innern Anschauungen kein Begriff völlig      
  26 adäquat sein kann. Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren      
  27 Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung      
  28 u. d. gl., zu versinnlichen; oder auch das, was zwar Beispiele in      
  29 der Erfahrung findet, z. B. den Tod, den Neid und alle Laster, imgleichen      
  30 die Liebe, den Ruhm u. d. gl., über die Schranken der Erfahrung hinaus      
  31 vermittelst einer Einbildungskraft, die dem Vernunft=Vorspiele in Erreichung      
  32 eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu      
  33 machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigentlich      
  34 die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in      
  35 seinem ganzen Maße zeigen kann. Dieses Vermögen aber, für sich allein      
  36 betrachtet, ist eigentlich nur ein Talent (der Einbildungskraft).      
           
  37 Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft      
           
     

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