Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 313

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 und doch der Freiheit im Spiele derselben nicht nachtheilig werden zu      
  02 lassen.      
           
  03 Geschmack ist aber bloß ein Beurtheilungs=, nicht ein productives      
  04 Vermögen; und was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der      
  05 schönen Kunst: es kann ein zur nützlichen und mechanischen Kunst, oder      
  06 gar zur Wissenschaft gehöriges Product nach bestimmten Regeln sein, die      
  07 gelernt werden können und genau befolgt werden müssen. Die gefällige      
  08 Form aber, die man ihm giebt, ist nur das Vehikel der Mittheilung und      
  09 eine Manier gleichsam des Vortrages, in Ansehung dessen man noch in      
  10 gewissem Maße frei bleibt, wenn er doch übrigens an einen bestimmten      
  11 Zweck gebunden ist. So verlangt man, daß das Tischgeräth, oder auch      
  12 eine moralische Abhandlung, sogar eine Predigt diese Form der schönen      
  13 Kunst, ohne doch gesucht zu scheinen, an sich haben müsse; man wird sie      
  14 aber darum nicht Werke der schönen Kunst nennen. Zu der letzteren aber      
  15 wird ein Gedicht, eine Musik, eine Bildergallerie u. d. gl. gezählt; und da      
  16 kann man an einem seinsollenden Werke der schönen Kunst oftmals Genie      
  17 ohne Geschmack, an einem andern Geschmack ohne Genie wahrnehmen.      
           
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§ 49.

     
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Von den Vermögen des Gemüths, welche das Genie

     
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ausmachen.

     
           
  21 Man sagt von gewissen Producten, von welchen man erwartet, daß      
  22 sie sich, zum Theil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie sind      
  23 ohne Geist; ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrifft, nichts      
  24 zu tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant sein, aber es ist      
  25 ohne Geist. Eine Geschichte ist genau und ordentlich, aber ohne Geist. Eine      
  26 feierliche Rede ist gründlich und zugleich zierlich, aber ohne Geist. Manche      
  27 Conversation ist nicht ohne Unterhaltung, aber doch ohne Geist; selbst von      
  28 einem Frauenzimmer sagt man wohl: sie ist hübsch, gesprächig und artig,      
  29 aber ohne Geist. Was ist denn das, was man hier unter Geist versteht?      
           
  30 Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe.      
  31 Dasjenige aber, wodurch dieses Princip die Seele belebt, der      
  32 Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig      
  33 in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält      
  34 und selbst die Kräfte dazu stärkt.      
           
  35 Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen      
           
     

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